Rassistische Vorurteile zwängen uns in Kategorien, nach denen wir uns zu definieren haben, schreibt Yuri Prasad. Aus dem Englischen von David Paenson
Identität ist für uns alle ganz wesentlich und zugleich facettenreich. Zu ihr gehört unser Selbstbild, was uns zu dem macht, was wir sind, mit wem wir glauben, verbunden zu sein – und mindestens genauso wichtig, wer wir nicht sind und mit wem wir uns nicht verbunden fühlen. Es ist leicht nachvollziehbar, wie sich solche Vorstellungen mit denen von Rasse, Gemeinschaft, Ethnizität und Nation überschneiden.
Es ist verlockend, den Fokus ausschließlich darauf zu legen, wie Identität uns eine gewisse Kontrolle über unser Leben verleiht und unserem Wunsch entgegenkommt zu entscheiden, welche Aspekte von uns wir betonen und als besonders wichtig herausstreichen möchten. Es ist ein berechtigter Wunsch, selbst entscheiden zu können, mit welchen Augen die Welt auf uns blickt. Es wäre aber falsch zu glauben, dass Kämpfe um Identität automatisch den von Unterdrückung Betroffenen nutzt. Kämpfe um Identität können sich um die Perspektive des Multikulturalismus zusammentun, sie können aber ebenso gut jenen Auftrieb geben, die das entgegengesetzte Ziel der „weißen Vorherrschaft“ oder der ethnischen Reinheit verfolgen.
Dass das Konzept der Identität sowohl von der Rechten als auch von der Linken benutzt werden kann, zeigt uns, dass der Prozess ihrer Herausbildung nicht in einem Vakuum stattfindet. Weil wir in einer rassistischen Gesellschaft leben, nimmt unser Wunsch nach Selbstbeschreibung bestenfalls den zweiten Platz ein. Auch wenn wir uns dazu entscheiden, manche Aspekte unserer Persönlichkeit herunterzuspielen oder zu ignorieren, finden sich stets andere, die uns eine Identität aufzwingen. Und umgekehrt, wenn wir fordern, in eine Identität aufgenommen zu werden, wie beispielsweise das Britischsein, finden sich genug Menschen, die uns dafür nicht würdig oder qualifiziert genug erachten.
Rassenvorurteile zwingen uns, uns nach den Kategorien zu verorten, die sie geschaffen haben. Die Einschränkungen, mit denen sie unseren Versuchen nach Selbstdefinition begegnen, erscheinen so tief verwurzelt, als ob sie schon immer zum Wesen des Menschendaseins gehörten. Die Vorstellung von Rassen, insbesondere einer Hierarchie unter den Rassen, mit Weißen ganz oben, ist aber in Wirklichkeit ein relativ junges Phänomen. In seinem bahnbrechenden Buch „The Invention of the White Race“ schreibt Theodore Allen, dass die ersten Afrikaner bei ihrer Ankunft in Virginia im Jahr 1619 nicht auf „Weiße“ trafen. Die kolonialen Akten zeigen, dass es auch während der folgenden 60 Jahre dabei blieb. Die in die Plantagen von Virginia verfrachteten Schwarzen waren Sklaven – gekauft und verkauft von Europäern, die bald das ganze Kontinent kolonisierten. Diese Europäer bezeichneten sich nicht als „Weiße“. Sie identifizierten sich vielmehr mit ihrem Ursprungsland – England, Holland, Irland usw. Die Idee des „Weißseins“ musste erst geschaffen werden. Auf Grundlage des Weißseins entwickelte sich dann eine ganze Ideologie der sozialen Spaltung und Kontrolle, die in den Folgejahrhunderten gar eine „Wissenschaft“ rassischer Unterschiede hervorbrachte.
Diese Rassengruppen, aus denen wir die unsrige aussuchen mussten oder die uns zugeteilt werden, sind alles andere als Widerspiegelungen der „natürlichen Ordnung“, sie sind vielmehr Folge eines Systems der Kategorisierung nach Rassen. Denn wenn es keinen Rassismus gäbe, würde niemand unserer Hautfarbe oder der Beschaffenheit unseres Haares besondere Bedeutung beimessen. Heute ist das Konzept Rasse wissenschaftlich widerlegt, aber der Rassismus in der Gesellschaft um uns herum ist sehr real. Und der erlebte Rassismus bringt viele dazu, sich auf eine Weise zu organisieren, die heute als „Identitätspolitik“ bezeichnet wird. Dabei geht es grundsätzlich darum, all jene, die eine bestimmte Form der Unterdrückung erfahren, um einen gemeinsamen Kampf für Veränderung zu einen.
Es ist nicht immer klar, was wir unter dem Begriff „Identitätspolitik“ eigentlich verstehen sollten. Er umfasst viele verschiedene politische Strategien, auch solche, die eine revolutionäre Herausforderung des Systems darstellen, nebst solchen, die eine versöhnlichere Haltung einnehmen. Als Mittel der Organisation bietet sie einige klare Vorzüge. Menschen können auf Basis einer geteilten Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und Wut zusammenfinden. Die Teilnahme an einem Kampf um Veränderung hilft, das Gefühl der Einheit zu stärken. Das trägt wiederum dazu bei, Differenzen bezüglich Zielen und Strategien in den eigenen Reihen zu kaschieren. Der bloße Akt des Zusammenkommens hilft, die als individuelles Schicksal empfundene Unterdrückung, gegen die man sich meistens machtlos fühlt, in die Erfahrung einer Gruppe zu verwandeln, die größeres Potenzial zu handeln hat. Solches kollektives Handeln ist die Voraussetzung für Solidarität. Die im 20. Jahrhundert von Frauen, Schwarzen und LGBT+-Menschen erzielten enormen Errungenschaften sind das Ergebnis von Massenkampagnen, die bis in die 1960er und 70er Jahre zurückreichen und die unter jenen organisierten, die ganz unmittelbar unter gesellschaftlichen Vorurteilen litten, auch wenn es ihnen gelang, breitere Unterstützerkreise um sich zu versammeln.
Aber die Mobilisierung auf Grundlage der Identität birgt auch ihre ganz realen Schwächen, wie der Kampf gegen Rassismus zeigt. Die allgemeine akzeptierte Annahme ist, dass Einheit unter allen Opfern von Rassismus hergestellt werden kann, oder zumindest unter gesonderten ethnischen Gruppierungen. Allerdings können sogar Menschen, die ganz ähnliche Erfahrungen rassistischer Unterdrückung machen, das Erlebte ganz unterschiedlich interpretieren.
Für manche stellt Rassismus das ganze System unter Anklage. Ihre Wut kann leicht in politische Aktion umschlagen. Viele besuchen ihre ersten politischen Versammlungen und Demonstrationen unter dem Eindruck ihrer persönlichen Erfahrungen und öffnen sich dann für radikale Interpretationen der Welt um sie herum. Andere wiederum ziehen aus dem Phänomen Rassismus den pessimistischeren Schluss, dass gegen Vorurteile nichts oder nur wenig getan werden kann, weil sie eine Widerspiegelung der menschlichen Natur sind. Andere werden das noch konservativere Fazit ziehen, die Schuld für ihr Schicksal bei den Opfern zu suchen – wenn wir nur härter arbeiteten und uns besser benähmen, könnten wir rassistische Vorurteile entkräften, so ihr Argument. Mit seinen britisch-indischen Wurzeln ist Innenminister Sajid Javid sicherlich Zielscheibe von Rassismus, aber seine Reaktion darauf scheint darin zu bestehen, ihn im Wettrennen im rassistischen Getümmel noch weiter nach rechts zu bewegen. Nur wenige Antirassisten würden einem Politiker, der die Flammen des antimigrantischen Rassismus vorsätzlich anfacht, einen Platz in unserer Bewegung einräumen.
Differenzen
Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven erwachsen allerlei unterschiedliche Strategien. Da sind Schwarze und Asiaten, die die Meinung vertreten, wir sollten Konfrontationen aus dem Weg gehen und stattdessen auf wirtschaftlichen und politischen Erfolg fokussieren. Nach ihnen sollte unser Hauptziel die Platzierung von mehr Menschen schwarzer und ethnischer Minderheiten in Machtstellungen sein. Dann gibt es jene, die einer Bewegung auf den Straßen das Wort reden, um den Staat und die Rassisten direkt zu konfrontieren. Die Organisierung auf der Basis von Identität und geteilter Erfahrungen von Unterdrückung kann politische Differenzen überbrücken, aber im Verlauf des Kampfes treten diese umso deutlicher hervor. Kampagnen auf Grundlage von Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit werden oft von sprachgewandteren Menschen der Mittelschichten dominiert, die sich zu „Sprechern der Gemeinschaft“ ernennen, aber in Wirklichkeit eigene Ziele verfolgen.
Aber sogar wenn versucht wird, auf der Basis von Identitätspolitik kollektiven Widerstand zu organisieren, wird dieser oftmals untergraben durch die Art und Weise, wie sie uns dazu verleitet, erfahrene Unterdrückung als individuelles Los aufzufassen. Um das Ausmaß dieser Verletzung zu schätzen, werden wir aufgefordert, unsere eigene Stellung in der Gesellschaft und unsere Erfahrung der Welt mit denen einer „normalen“ Person zu vergleichen. Aber was dieses „Normale“? In seinem Buch „Mistaken Identity“ argumentiert Asad Haider, dass das Normale mit Weißen, mit der Mittelschicht und mit Männern gleichgesetzt werden: „Indem Forderungen marginalisierter oder untergebener Gruppen aus der Perspektive von Identitätspolitik formuliert werden, wird die weiße männliche Identität in den Status des Neutralen, des Generellen, des Universellen gehoben… Wenn das nicht hinterfragt wird, haben People of Colour und andere unterdrückte Minderheiten keine andere Wahl, als ihre politischen Forderungen in Begriffen der Inklusion in das bürgerliche, maskuline Ideal zu formulieren“, so Haider.
Indem Gleichheit nach dem Maßstab der Verletzung definiert wird, verwandelt sich der Kampf in einen für Inklusion in das System. Die Katalogisierung der spezifischen erfahrenen Ungerechtigkeiten rückt in den Mittelpunkt und damit die vielen Mikroaggressionen. Es stellen sich immer mehr Fragen um „mich“: Warum wurde ausgerechnet mir die verdiente Beförderung vorenthalten? Warum habe ich keinen Zugang zu den Vorstandsetagen? In dieser verengter Sichtweise wird Erfolg in Euros berechnet. Daher die endlosen Listen der 10 reichsten Asiaten, der 10 mächtigsten Afrikaner usw. Als die schwarze US-Revolutionärin Angela Davis in einer Ansprache vor den Frauen des Weltfestivals in London Anfang des Jahres darauf hinwies, dass eine Anzahl von Unternehmen des „Gefängnisindustrie-Komplexes“ mittlerweile von Frauen geleitet wird, verstand das ihre Zuhörerschaft – zu Angelas Entsetzen – als Aufforderung zu klatschen! Aber ihr Argument war doch, dass Frauen an der Spitze von Unternehmen zu haben, die ihr Geld mit Rassismus und Gewalt scheffeln, kein Maßstab für Befreiung sein kann.
Spannungen zwischen kollektiven und individuellen Forderungen nach Befreiung begleiten die gesamte Geschichte des antirassistischen Kampfes in Großbritannien. In den 1970er und 80er Jahren war der Begriff „schwarz“ mehr als eine eng gefasste ethnische Bezeichnung. Er wurde als inklusive Kategorie verwendet, um alle von Rassismus Betroffenen zu einen. Er hatte den Vorzug, Asiaten, Afrikaner und Menschen der Karibik einzuschließen, auch ihre britisch-geborenen Kindern – und er vereinte unter seinem Banner viele andere, die den Rassismus ebenfalls bekämpfen wollten. Er war eine Kategorie des Kampfes für alle, die den staatlichen Rassismus der Einwanderungskontrollen und der Polizeiwillkür bekämpfen wollten, aber auch den Straßenrassismus der Faschisten und der National Front und der Gangs, die diese inspirierten.
Als Antwort auf die Straßenunruhen von Brixton und die anschließenden urbanen Aufstände in ganz Großbritannien im Jahr 1981 versuchte die Regierung, durch gezielte Förderung einer schwarzen Mittelschicht einen Puffer zwischen sich und Schwarzen der Arbeiterklasse zu errichten. Sie verfolgte aber zugleich das Ziel, unter jenen, die rebelliert hatten, den Samen der Spaltung zu säen. So versuchte sie, schwarze politische Anführer und Vertreter der Geschäftswelt zu kooptieren. Und um das Getriebe noch besser zu ölen, kündigte sie staatliche Hilfen für allerlei „ethnische“ Projekte an. Der Wettbewerb zwischen selbsternannten Gemeindeführern und den ihnen unterstehenden Projekten um Gelder und offizielle Anerkennung war ganz im Sinne der Regierung. Im Namen der Gleichheit entschloss sie sich, die Gelder zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen aufzuteilen, die zuvor alle unter die Kategorie „schwarz“ firmierten, und die frühere Einheit zerbröckelte. Asiatische Gruppen wetteiferten nun mit Gruppen aus der Karibik nach Geldern für die Ausstattung ihrer jeweiligen Projekte wie Gemeinschaftszentren und Jugendklubs. Bald zerfielen auch diese Kategorien in immer spezifischere und kleinere Unterkategorien.
Rivalen
Menschen, die einst zusammengestanden hatten, sahen im anderen zunehmend einen Konkurrenten und Rivalen, während viele Anführer sich als die einzige legitime Vertretung ihrer jeweiligen Gemeinschaften präsentierten. Derweil ergatterten die Ehrgeizigsten und Redegewandtesten unter ihnen Stellen in Stadträten und in von der Regierung finanzierten Körperschaften. Manche erklommen noch höhere Stufen. Es waren die Konservativen, die anscheinend ein besonderes Gespür dafür entwickelten, dass manche Anhänger der Identitätspolitik nach Eingliederung in das System suchten, nicht nach dessen Abschaffung.
Für jene, die nach einem radikaleren Herangehen Ausschau halten, bietet der Marxismus schon lange eine attraktivere Alternative. Anstatt Unterdrückung als Ausfluss ungleicher Machtverhältnisse zwischen Individuen, Gemeinschaften oder Ethnien zu sehen, gehen Marxisten von der Annahme aus, dass der Rassismus strukturell ist, dass er unlöslich im Kapitalismus wurzelt. Eine in eine Hierarchie verschiedener Klassen organisierte Gesellschaft braucht Spaltungen zu ihrem Überleben.
Der Rassismus spaltet die gesamte Gesellschaft von oben nach unten, von den Reichsten zu den Ärmsten. Vor allem spaltet er aber die Arbeiterklasse unter sich, was den Unternehmern und den Reichen nutzt. Der Ökonom Michael Reich hat die Einkommensverteilung im Amerika der 1970er Jahre analysiert und dabei festgestellt, dass je größer der Unterschied zwischen weißen und schwarzen Einkommen ist, desto größer auch die Ungleichheit unter den weißen Einkommen selbst. Seine Untersuchung ist eine unter vielen, die nachweisen, dass, während Schwarze unweigerlich die größten Härten erlitten, auch die Interessen der weißen Arbeiter durch die rassistische Spaltung in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die marxistische Einsicht in Ursprünge und Funktion des Rassismus hat eine praktische Bedeutung. Vor allem bedeutet sie, dass es sowohl möglich als nötig ist, Menschen aus der weißen Arbeiterklasse für den antirassistischen Kampf zu gewinnen.
Aber Rassenvorurteile hören nicht bei der Einkommensungleichheit auf. Sie durchdrängen alle Lebensbereiche ihrer Opfer. Es fängt an mit der systematischen Benachteiligung schwarzer Kinder im Bildungssystem, es geht weiter mit einer Kriminaljustiz, die Schwarze gezielt schuldig spricht und bestraft, bis hin zu dem Fortbestand schwarzer Stereotypen in allen Lebensbereichen und der Art und Weise, wie die Staatszugehörigkeit als Privileg betrachtet wird, dass jederzeit wieder entzogen werden kann. Das Ziel dieser erbarmungslosen Angriffe ist es, Spaltungen zu vertiefen und die „weiße Arbeiterklasse“ von den „anderen“ zu trennen.
Damit der Rassismus seine Funktion als Ideologie der Spaltung erfüllen kann, bedarf er der Unterstützung der Mächtigsten in der Gesellschaft – der herrschenden Klasse. Aber er muss sich auch in das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten einpflanzen und dort eine selbständige Dynamik entfalten. Um die Köpfe der Arbeiter zu vergiften, muss er ihnen eine falsche aber doch überzeugende Erklärung liefern für den Schmerz und die Härten, die sie erfahren.
Macht
Der einzige Weg, diesem elenden Zustand zu entkommen, besteht darin, dem dafür verantwortlichen System den Garaus zu machen. Marx’ Fokus auf die Arbeiterklasse ist in seinem Glauben zu orten, dass sie die einzige Kraft darstellt, die ein materielles Interesse und die potenzielle Macht zum Sturz des Systems besitzt. Darin erblickte er allerdings keinen Automatismus. Marx verstand sehr wohl, dass eine gespaltene Arbeiterklasse der Herausforderung nicht gewachsen sein wird. Das ist der Grund für seine Beschreibung des Rassismus des britischen Arbeiters gegenüber dem irischen Arbeiter als „das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse“. Der Kampf, so Marx, ist der Schlüssel, um Menschen aus der Arbeiterklasse von rückständigen Ideen zu lösen, die sie an das System binden.
Oft nimmt dieser Kampf die Form von Kampagnen, Streiks und Demonstrationen an, die das Selbstvertrauen der Menschen in ihr eigenes Potenzial erhöhen und sie weniger anfällig für Sündenbockargumente macht. Aber während dieser Kampfwille der Arbeiterklasse enorme Möglichkeiten eröffnet, wird er nicht automatisch das Problem des Rassismus lösen. Um das zu bewerkstelligen, bedarf es einer bewussten Anstrengung, den Einfluss von Vorurteilen, vor allem unter Arbeitern, zu brechen. Jede Aktion muss mit einem Kampf um Ideen einhergehen. Das ist die Aufgabe von Sozialisten.
Der Artikel erschien auf Englisch im Socialist Review!
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