Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg: Er war Nährboden für den Faschismus in Italien und den Nationalsozialismus in Deutschland und wurde so zum Vorläufer des Zweiten Weltkriegs. Die Weigerung seitens nationalistischer Kräfte, die Demokratie zu unterstützen, führte geradewegs in den Nationalsozialismus. Die evangelische Kirche hatte daran erheblichen Anteil. Angesichts neu aufflammender nationalistischer Töne ist es höchste Zeit, aus der Geschichte zu lernen.
In der Weimarer Republik gehörte die Diskussion über Krieg und Frieden zu den Haupt-Streitpunkten in der evangelischen Kirche. Die meisten Pfarrer betrauerten in den Kirchenzeitungen das Ende des alten Kaiserreichs. Sie sehnten sich zurück nach dem „Geist von 1914“, dem so genannten „Gotteserleben im Vaterland“. In der Predigt vom gottgewollten Krieg vereinigte sich die Idee vom deutschen Weltberuf mit dem Gedanken von einer göttlichen Sendung des deutschen Volkes. Die Kriegspredigten verstärkten die kaiserliche Militärpolitik. Als habe ein „heiliger Krieg“ ein unheiliges Ende gefunden, wurde dann die Revolution empfunden. Die Niederlage des deutschen Heeres wurde als geistiges Versagen der demokratischen Revolutionäre und ihrer Helfer verstanden. Die Heimat habe nicht durchgehalten. Die so genannte „Dolchstoß“-Legende, das unbesiegte Heer sei das Opfer linksradikaler Hetzer geworden, wurde auch in christlichen Kreisen gläubig aufgenommen. Im Nationalprotestantismus war man sich einig, der Krieg sei den Deutschen aufgezwungen worden. Dass Deutschland schuld am Kriege gewesen sei, sei die große „Lüge“ gewesen. Der Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ und die „Versklavung“ von Versailles – gemeint war der Friedensvertrag, der Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich machte und umfangreiche Reparationen festlegte – gehörte zum Ritual parlamentarischer Reden und Kundgebungen.
Der Rechtswissenschaftler Hermann Kantorowicz kam aber in der Schuldfrage zu für die Deutschen ungünstigen Ergebnissen. Deshalb wurde die Untersuchung vom Auswärtigen Amt unterdrückt. Erst 1965 entdeckte der Historiker Imanuel Geiss das angeblich verschollene Gutachten und veröffentlichte es 1967. Hermann Kantorowicz war zu dem Ergebnis gekommen: Fast 20 gefälschte Gutachten wurden am 3. August 1914 dem Reichstag vorgelegt, um vor allem die Sozialdemokraten irrezuführen und den deutschen Präventiv- und Eroberungskrieg als Verteidigungskrieg zu tarnen. Nach dem Studium veröffentlichter Dokumente erkannte auch der prominente SPD-Abgeordnete Eduard Bernstein: „Die deutsche Regierung ist der Hauptschuldige am Kriege, wir sind eingeseift worden; die Bewilligung der Kriegskredite war ein Fehler.“ H. Kantorowicz konstatierte: „Fälschungen sind Schuldgeständnisse“. Der Krieg sei von „Deutschland als Präventivkrieg, von Österreich-Ungarn als Verzweiflungskrieg, von Frankreich und Russland als Machterhaltungskrieg beschlossen“ worden. Deutschland und Österreich-Ungarn erklärte er zu Hauptschuldigen.
Heutzutage ist – besonders in Deutschland – die These beliebt, Europas Mächte seien hilflos in einen Krieg hineingeschlittert, den niemand gewollt habe. Aber Historiker wie Annika Mombauer, Wolfram Wette und Helmut Donat widersprechen der „Schlafwandler“-These von Christopher Clark, die Deutschland entlasten würde, und kommen zu dem Ergebnis: „Deutschland hat den Ersten Weltkrieg bewusst entfesselt.“ (Wolfram Wette).
Der Nationalprotestantismus hielt nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr daran fest, den Krieg als menschliche Normalsituation zu erklären. Vor dem Hintergrund der Lehre vom unerbittlichen Machtkampf der Staaten war die Frage von Krieg und Frieden schnell entschieden. Das Motto „Notwehr im Großen“ wurde Formel für die Apologie christlicher Kriegsbeteiligung. Die frühere Lehre vom gerechten Krieg wurde zur Lehre von der „Selbstbehauptung“ der Staaten erweitert. Für den Christen sei der Krieg sittlich gerechtfertigt, wenn er politisch richtig sei, als ein Akt der Selbstbehauptung eines Volkes in seiner Kulturaufgabe. In der naturalistischen Interpretation galt der Krieg als großes „Examen der Weltgeschichte“ (Reinhold Seeberg). Recht wurde definiert als „ein lebendiges, in der Lebenskraft und geschichtlichen Tüchtigkeit wurzelndes“ (Paul Althaus). Pläne für kriegerische Eroberungen konnten auf Vorstellungen vom „Recht des Tüchtigen“ später im Dritten Reich zurückgreifen.
Die christliche Friedensbewegung dagegen wollte einen Zwang zum Frieden rational und moralisch einsichtig machen. Mit Immanuel Kant („Zum ewigen Frieden“, 1795) meinte man: Trotz böser Gesinnungen gebe es doch das Interesse an der „Erhaltung“ des Lebens. Triebfeder für den Frieden zwischen Staaten sei der „Eigennutz“, und das Interesse am Handel sei mit dem Krieg unvereinbar. Ehemalige Offiziere verwiesen auf den kommenden Krieg als „Vernichtungskrieg“, in dem sich die Zivilbevölkerung nicht mehr schützen ließe.
Für Leonhard Ragaz, den Vorsitzenden der religiös-sozialistischen Internationale, begründete sich das Wirken für den Frieden in seiner Hoffnung auf Gottes kommendes Reich. Die Avantgarde der Herrschaft Gottes habe sich an die Spitze des gesellschaftlichen Kampfes für Frieden und Gerechtigkeit zu setzen. Siege gebe es, weil Er siege. Die Furcht der Orthodoxie und des Pietismus vor der Vermischung von Gottes- und Menschenwerk sah Ragaz in einer falschen Alternative begründet: „Beides ist wahr, dass Gott allein es tut, und dass er nichts tun will und kann ohne uns. Man darf sagen, … dass einige wenige treffliche Menschen und Führer es vermöchten, die Welt zum Frieden zu bringen, und man kann ebenso gut sagen, auch die gewaltigste und lauterste Menschenkraft vermöge nichts, wenn Gott nicht seinen Creator Spiritus (sc. Schöpfer Geist) wehen lasse.“
Dietrich Bonhoeffer schließlich erklärte den Frieden als einzig anzuerkennenden Normalzustand. Der heutige Krieg ist „schlechthin vernichtend“, „vernichtet Seele und Leib“. Deshalb lasse der Krieg sich nicht mehr in das theologische Denken von Ordnungen Gottes einfügen. Ordnung Gottes zu sein, kommt vielmehr dem Frieden zu. Auch dem Gebot des zornigen Gottes nach ist der Friede „eine Ordnung der Erhaltung der Welt auf Christus hin“. Damit war den Nationalprotestanten der Begriff der Ordnung Gottes, mit dem sie den Krieg erklärten, entrissen – und der Friede erhielt die Anerkennung als „Erhaltungsordnung“ Gottes.
Wo waren die Christen angesichts drohender Diktatur mit der Folge des Zweiten Weltkriegs? Wer so fragt, begegnet zugleich der ökumenischen Bewegung in Deutschland, vertreten in ihren Anfängen durch den „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“, in Konstanz vor über 100 Jahren ins Leben gerufen, und prophetischen Stimmen der Friedensethik (Friedrich Siegmund-Schultze, Martin Rade, Martin Dibelius, Karl Barth, Günter Dehn, Georg Fritze, Leonhard Ragaz, Paul Tillich, Erwin Eckert, Emil Fuchs, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Dedo Müller u.a.) sowie Gruppen der christlichen Friedensbewegung (Internationaler Versöhnungsbund, Bund religiöser Sozialisten Deutschlands, Evangelisch-Christliche Einheit, Religiöser Menschheitsbund, Kreuzritter, Deutsche Gruppe des Internationalen Ausschusses Antimilitaristischer Pfarrer, Evangelischer Friedensbund), die während der Weimarer Zeit vor dem Nationalsozialismus und einem kommenden Krieg gewarnt haben, aber von der Mehrheit im Nationalprotestantismus nicht gehört und ernst genommen wurden.
Kirchen, Parteien und gesellschaftliche Gruppen haben frühe Friedensrufe kaum gewürdigt, viele Aktivisten der Friedensbewegung sind vergessen worden. Dabei ist ihr Wirken bis heute eine Mahnung, den Frieden in einer von Kriegen bedrohten Welt zu erhalten. So können wir Traditionslinien ins Bewusstsein rufen: Frieden ist im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel „nicht nur eine Frage der Humanität und Moral, sondern eine Frage der nackten Existenz“, wie der von der NS-Diktatur ermordete Widerstandskämpfer und religiöse Sozialist Theodor Haubach (1896-1945) sagte. „Wollt ihr denen Gutes tun, / die der Tod getroffen, Menschen, lasst die Toten ruhn / und erfüllt ihr Hoffen!“ (Erich Mühsam, anarchistischer Dichter, Publizist, Antimilitarist, ermordet von der SS am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg.)
Die evangelische Kirche hat nach zwei Weltkriegen bekannt, „in die Irre gegangen“ zu sein und die „Nation auf den Thron Gottes gesetzt“ zu haben (Darmstädter Wort des Bruderrates vom 8. August 1947).
Doch in welche Tradition stellt sie sich heute? Räumt sie jenen Personen und Gruppen, die nach 1918 vor dem weiteren Weg in die Barbarei gewarnt haben, heute wirklich jene Ehre ein, die ihnen gebührt? Insbesondere die oft verschwiegene Haltung, die der deutsche Protestantismus von 1918 bis 1933 zum Thema Krieg und Frieden, zur Kriegsschuldfrage und zum Versailler Vertrag eingenommen hat, erklärt, warum so viele Pfarrer und Würdenträger mit fliegenden Fahnen ins Dritte Reich marschiert sind. Lediglich Minderheiten, oft beschimpft und ausgegrenzt, erkannten, dass Kreuz und Hakenkreuz nicht miteinander vereinbar sind.
Die Bilanz der Kriegsjahre von 1914–1918 war verheerend. Schätzungsweise 40 Millionen Menschen haben unter den Folgen des Krieges gelitten: 20 Millionen sind gestorben, davon ca. 10 Millionen Zivilisten, und 21 Millionen wurden verletzt.
Die Erinnerung an die Schrecken zweier Weltkriege ist in Europa noch lebendig, aber sie verblasst zunehmend. Nationalistische Parolen in vielen europäischen Ländern und steigende Militärausgaben zeigen: Viele rechnen wieder mit Krieg als einem zentralen Mittel der Politik. Angesichts des riesigen Potentials an Vernichtungswaffen, Gewalt und Kriegen ist Frieden zur Lebensbedingung der Menschheit geworden. Umso dringlicher ist es, nach Beiträgen einzelner Regierungen und Persönlichkeiten für die zivile Lösung von Konflikten zu fragen sowie nach Möglichkeiten der Kirchen, gesellschaftlichen und christlichen Gruppen, dabei mitzuwirken. Die Weimarer Zeit ist zu untersuchen und friedensfeindliche, bis heute nicht überwundene Tendenzen aufzudecken. Dazu gehört, wie der deutsche Nationalprotestantismus den Reformator Luther für sich vereinnahmte, jede Schuld des Kaiserreiches am Ersten Weltkrieg bestritt und sich mehrheitlich dem Nationalsozialismus öffnete. Wir müssen uns wieder an die Mahnung der religiös-sozialistischen Internationale von 1930 erinnern: „Christentum und Faschismus sind unvereinbar!“ Zugleich ist die seinerzeit geschmähte und verachtete christliche Friedensbewegung zu würdigen und an ihr in Vergessenheit geratenes Zeugnis im Sinne einer neuzeitlichen Friedensethik und ökumenischen Theologie anzuknüpfen.
Vgl. Reinhard Gaede: Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik (= Schriftenreihe Geschichte & Frieden, Bd. 41) Donat Verlag, Bremen 2018
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