Abwertung von Obdachlosen, Erwerbslosen und armen Menschen ist in Deutschland kein Randphänomen – Klassismus ist der Begriff, der dies zusammenfasst. Wir haben mit Philipp Schäfer, Doktorand an der Hochschule Düsseldorf und Autor eines Beitrags im Buch „Solidarisch gegen Klassismus“, über Klassismus, dessen Wirkung und die Möglichkeiten dagegen vorzugehen, gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Du hast vor kurzem an einem Buch mitgeschrieben, welches den Titel trägt „Solidarisch gegen Klassismus“. Wie kommt es, dass die Debatte zu Klassismus momentan an Fahrt aufnimmt? Gibt es aktuelle Auslöser?
Philipp Schäfer: Über diese Frage wird diskutiert, also warum es aktuell wieder Diskurse über Klassismus, Klasse oder sogar auch Klassenkampf gibt. Ich glaube es hat auch damit zu tun, dass das herrschende System heftig kriselt. Beim letzten Mal war das kurz nach der Finanzkrise der Fall und jetzt aktuell im Zusammenhang mit der Coronapandemie, wenn man liest, dass immer mehr Menschen selbst aus der Mittelschicht am Struggeln sind, während die Besitzer von Facebook oder irgendwelchen Supermarktketten immer reicher werden. Immer wenn es sehr offensichtlich wird, dass das kapitalistische System dafür gemacht ist, dass nur ganz wenige reich werden und viele arm bleiben, dann nimmt die Beschäftigung mit Klassen und marxistischer Theorie zu.
Die Sammelbandanfrage war allerdings schon früher, vor der Coronazeit. Ich glaube, das hat sich ein stückweit daraus entwickelt, dass zum einen über marxistische Theorie zum anderen über Cultural Studies versucht wird, Klassismus als Begriff zu fassen. In einer kleinen sozialwissenschaftlichen und aktivistischen Bubble wurde es schon länger diskutiert, in der breiten Öffentlichkeit hängt das Interesse bestimmt mit der aktuellen Krise zusammen.
Die Freiheitsliebe: Du hast grade angesprochen, dass es auch mit der Verteilung von Armut und Reichtum zusammenhängt. Wie wirkt sich denn Klassismus im Alltag aus, abseits vielleicht von medialen Debatten?
Philipp Schäfer: Ich glaube, das ist eine Frage, wie man den Klassismus-Begriff definiert. Das kann einerseits die Möglichkeit sein zu zeigen, wie sich soziale Ungleichheit auswirkt, also zum Beispiel, dass, wenn man aus einem Nicht-Akademikerhaushalt kommt, man schon früh im Bildungssystem ausselektiert wird. Man könnte aber auch die Agenda 2010 nehmen, die durch und durch klassistisch ist. Aber natürlich auch wenn man Menschen anhand von vermeintlichen selbstgewählten Äußerlichkeiten labelt, zum Beispiel „sieht asi aus“ oder an Begriffen wie „Hartzer-Style“, woran man auch schon erkennt, wie stark sich bestimmte gesetzliche Strukturen bis zum Schimpfwort entwickeln. Max Uthoff hat das mal sehr gut gesagt: Beim Arbeitslosen, da ist jemand was los geworden, beim Hartz-IV-Empfänger, da empfängt jemand was. Da gibt es eine Umkehr in der Logik, da wird jemand vom Opfer zum Täter – das passt dann wunderbar in das Schmarotzer-Narrativ, was über Menschen erzählt wird, die keine würdige Arbeit finden.
Die Freiheitsliebe: Du hast mit dem Vergleich auch gezeigt, wie sich Sprache im Kontext von Hartz-IV gewandelt hat. Die ersten Debatten zu Klassismus waren ebenfalls im Kontext von Hartz-IV und den Berichten über den vermeintlich faulsten Arbeitslosen Deutschlands. Hat sich seitdem etwas an der medialen Berichterstattung gewandelt oder ist sie gar weniger klassistisch geworden?
Philipp Schäfer: Ich würde sogar sagen, sie hat sich manifestiert. Wenn man sich Arno Dübel („der dreisteste Arbeitslose Deutschlands“)anschaut, fällt auf, dass er vor allem von einem Privatsender mit drei Buchstaben und einer Zeitung mit vier Buchstaben „behandelt“ wurde. Wenn man sich das Programm von RTL und RTL 2 jetzt anschaut, dann ist es ein stückweit krasser, wie etwa bei „Hartz und herzlich“ oder bei Formaten, die man gar nicht direkt als klassistisch wahrnimmt, wie „Schwiegertochter gesucht“. Dort ist auffällig, wie Menschen dargestellt, konstruiert werden. Die Stimme im Off skizziert mit Nebensätzen ständig, in welcher sozialen Lage sie sich befinden. Man kann also sagen, dass das heute sogar noch heftiger geschieht. Selbst in Medien, in denen man das nicht so vermuten würde, wie die „Familie Ritter“ bei stern TV. Die Familie zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sie totalen Nazimüll von sich geben. Ganz abgeben von diesem Mist, den sie von sich geben, wird jedoch immer daraufhin gewiesen, dass sie Hartz-IV-Empfangende sind. Die Stimme im Off sagt dann sowas wie „Während die von der Stadt bezahlten Möbelpacker sorgsam das Hab und Gut von Familie Ritter verpacken, sitzt die Hartz-IV-Empfängerin faul auf der Couch und stopft sich ihre Zigaretten“, so wird selbst bei stern TV und so ein Bild gemalt. Es gibt also immer noch extrem klassistische Strukturen.
Die Freiheitsliebe: Du hast dich mit den Auswirkungen von Klassismus beschäftigt. Welche Auswirkungen haben diese Darstellungen denn für die Betroffenen von Klassismus?
Philipp Schäfer: Ich versuche die Emotionssoziologie als Basis der Analyse zu nutzen. Das Schamgefühl ist eine der subtilsten Gewaltformen, die es gibt, weil Menschen sich selbst exkludieren. Die Menschen, die von Klassismus betroffen sind, sind sich ihrer Klasse bewusst, ohne sich bewusst zu sein, dass sie einer Klasse zugehören – sie merken es durch Blicke und Worte. Diese Abwertung zeigt sich häufig, indem sich die Menschen als nicht zugehörig in der Gesellschaft fühlen, als kollektiv Abgewiesene, ohne sagen zu können, dass das mit Klassismus zu tun hat.
Andere sagen: Ich wusste schon immer, dass das damit zu tun hat, dass zum Beispiel meine Eltern Hartz-IV-Empfangende waren oder sind, warum ich in der Schule nicht auf Geburtstagen eingeladen wurde. Man kann es also nicht an einem fixen Punkt darstellen, wie sich Klassismus auswirkt. Was aber fast immer zutrifft, ist, dass die Menschen diese subtile Gewalt spüren. Manche reflektieren es, zum Beispiel durch den Klassismus-Begriff, andere haben es vielleicht schon viel früher reflektiert. Das merke ich auch in Lesungen oder in den Emails von Leser*innen, dass dadurch, dass über Klassismus gesprochen wird, die Menschen benennen können, was sie schon immer gespürt haben. Das ist erstmal sehr heilsam, dass die Menschen ihre Erfahrungen benennen können, auch wenn das System natürlich weiter besteht.
Die Freiheitsliebe: Du hast schon beschrieben, wie sich Klassismus auswirkt. Was für Möglichkeiten gibt es denn, gegen Klassismus aktiv zu werden?
Philipp Schäfer: Da wird in einem aktivistischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs drüber gestritten. Die einen sagen, wir müssen den Kapitalismus abschaffen. Nur sehe ich das gerade einfach nicht, trotz der Krise und des obszönen Reichtums einiger weniger. Also ja, durch die Abschaffung des Kapitalismus würde dem Klassismus die Grundlage entzogen, doch ist dies nicht absehbar. Man sollte daher auch etwas gegen das Problem klassistischer Strukturen und Praxis tun. Das bedeutet nicht, dass der Begriff nun in Handbüchern von Antidiskriminierungsbüros aufgenommen werden muss und dann hat sich die Sache erledigt. Man darf die Position „wir müssen über Klassenkampf sprechen“ und des „wir müssen über klassistische Diskriminierung sprechen“ nicht gegeneinander diskutieren oder gar ausspielen, sondern immer wieder aufzeigen, dass sie sich bedingen.
Wir müssen über den Kapitalismus sprechen, also ein System, welches sehr viele Menschen krank macht. Die Symptome schlagen sich dann nieder im Leben, in der Sprache derjenigen, die die Ausgebeuteten sind. Wir dürfen in dem Diskurs nicht „nur“ über Klassenkampf und Kapitalismuskritik sprechen, ohne darüber zu reden, wie es den Menschen geht, die im Klassenkampf dabei sein müssten. Wenn man das nicht ermöglicht – also dass Leute ihre von Klassismus geprägten Geschichten erzählen – glaube ich nicht, dass man diejenigen erreichen kann, die am meisten darunter leiden.
Als erster Schritt könnte man Klassismus entgegenwirken, in dem man darlegt, wie diese Gewalt sich darstellt, wie sie wirkt. Und damit zeigen, wie sich das hässliche Gesicht des Kapitalismus im Klassismus widerspiegelt. Dadurch kann man vielleicht erreichen, dass sich mehr Menschen gegen dieses Wirtschaftssystem stellen oder es zumindest hinterfragen. Wer von Kapitalismuskritik spricht, darf über Klassismus nicht schweigen. Denn der zeigt sich ganz offensichtlich im alltäglichen Leben unsere Gesellschaft.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.
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Eine Antwort
Hallo,
es kri(e)selt bitte ohne „e“.
BG
Mats