Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es so schön. Wie viel Zeit bräuchte man, um die Wunden all derer zu heilen, denen seit 1990 ihre Familienangehörigen, Freundinnen, Freunde, Kollegen, Kolleginnen und Nachbarn weggenommen wurden?
Am Abend des 6. März 1990 wurde Mahmud Azhar in Berlin ermordet, nachdem er rassistisch attackiert wurde. Er war einer der ersten aus rassistischen Motiven Ermordeten im wiedervereinten Deutschland. Es sollten bis zum 19. Februar 2020 weitere 198 Opfer folgen. An jenem Tag, als Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Pāun in Hanau von einem Neonazi erschossen wurden. Mitte März 2020 zählen wir 208 Menschen, die Mordopfer neonazistischer Gewalt geworden sind: ermordet aus rassistischen, antisemitischen, chauvinistischen oder politischen Motiven, weil sie Antifas waren. Für einen Rechtsstaat ist das eine Blamage, aber der Rechtsstaat interessiert uns nicht. Seit Jahren hören wir Forderungen nach Entwaffnung von Faschisten oder Vollstreckung der Haftbefehle gegenüber knapp 500 verschwundenen Neonazis. Wir sehen nur Behörden, die Aufklärung verpassen oder verhindern. Politische Forderungen, die folgenlos verhallen. Pausenlos arbeitende Schreddergeräte und Berge von gelöschten Ordnern mit neonazistischen Anschlagsplänen. Bis heute haben die Familien der Opfer keine Gerechtigkeit erfahren. Fast zwei Drittel der Morde werden nicht einmal als politisch motiviert eingestuft: Die Entpolitisierung dieser Morde fängt in den Behörden an, zieht sich durch die Parteienlandschaft, die Rassismus als Gewaltakt verwirrter Einzeltäter verharmlost – und wird dort besonders unerträglich, wo diese Morde in Vergessenheit geraten. Ein Grund, einen Blick auf die letzten 30 Jahre zu werfen.
Mölln, Lübeck, Kassel und Hanau: Es war Mord! Und das Problem heißt Rassismus!
All diese Morde stehen in der Kontinuität einer langjährigen rassistischen Gewalt, die nicht erst seit 30 Jahren da ist. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In Westdeutschland ereignete sich 1980 das Oktoberfest-Attentat – der schwerste neonazistische Terroranschlag der Nachkriegszeit, der dreizehn Tote und über 200 zum Teil Schwerverletzte gefordert hat. 1979 wurden in der DDR in Merseburg bei andauernden rassistischen Pogromen zwei kubanische Gastarbeiter ermordet. Auch dort nahmen ab den 1980er Jahren der Organisationsgrad der Neonaziszene und ihre Angriffe deutlich zu. Allerspätestens nach dem Neonazi-Überfall auf die Zionskirche in Berlin Prenzlauer Berg 1987 war klar, dass rechter Terror nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden kann. Doch zurück zu Hanau: All diese Morde sind Puzzlestücke eines Gesamtbildes, das eine Geschichte erzählt – keine gute Geschichte leider.
Zum einen bildet es ab, wie mit neonazistischen Morden umgegangen wird und zum anderen zeugt es von einem Umgang mit Rassismus, der neonazistische Täter ermutigt, weiter zu morden. Wenn eine Auseinandersetzung mit Rassismus stattfindet, dann fällt auf, dass Rassismus und rassistische Gewalt von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen entkoppelt und einzig als ein Neonazi-Problem wahrgenommen wird. Was nicht thematisiert wird, sind Geschichte, Kontinuitäten sowie Aktualität und politische Tragweite des alltäglichen Rassismus.
Bei den NSU-Morden standen jahrelang die Angehörigen der Opfer im Visier der Behörden. Sobald sie auf Rassismus als mögliches Motiv hinwiesen, wurde gegen sie noch stärker ermittelt. Die Gedenkfeier „Möllner Rede im Exil“ findet – wie das Wort Exil erahnen lässt – nicht in Mölln statt. Eine Bestandsaufnahme über Rassismus, Neonazismus und Rechtsterrorismus ist bei der Gedenkfeier der Stadt Mölln nicht erwünscht. Seitdem gedenkt man Yeliz, Ayşe und Bahide in anderen deutschen Städten. Nach dem Brandanschlag auf die Geflüchtetenunterkunft in Lübeck im Jahr 1996 schien es den Behörden ebenfalls plausibel, erstmal im Umfeld der Angehörigen zu ermitteln, während sie die Täter trotz Spuren und Hinweisen innerhalb kürzester Zeit freiließen und freisprachen. In Kassel ermordete ein einschlägig bekannter und in der neonazistischen Szene aktiver Faschist den CDU-Politiker Walter Lübcke, weil dieser sich solidarisch mit Geflüchteten zeigte und sich dem rassischen und neonazistischen Mob nicht beugte. Dazu kommen all die Kommunalpolitikerinnen, die alltäglich Drohungen und Gewalt ausgesetzt sind. Nach Hanau gab es viel Solidarität aus der Zivilgesellschaft – die Reaktionen von offizieller Seite fielen jedoch eintönig aus und vor allem waren sie eines: blass.
Die Kanzlerin sagte, Rassismus sei Gift. Obgleich auch Angehörige der Ermordeten von Gift sprechen, ist uns wichtig zu bedenken, was wir daran zumindest diskussionswürdig finden. Diese Metapher suggeriert – wie zurecht von kritischen Journalistinnen und Journalisten bemängelt – einen grundlegenden gesunden Körper, in den von außen etwas eindringt und den Körper grundsätzlich verändert. Lächerlich. Der Bürgermeister von Hanau und Bundespräsident riefen gegen Hass auf, als ob Hass erst beim Herumschießen beginnt und urplötzlich da ist. Aus dem nichts. Was ist mit der Debatte um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die als Zäsur gilt und von rassistischen Übergriffen und Gewalttaten flankiert wurde? „Kinder statt Inder“, kein NPD-Spruch. Der Spruch trägt die Unterschrift des CDU-Politikers Jürgen Rüttgers. Warum redet wir nicht darüber? Was ist mit Sarrazin und all den Debatten über „Kopftuchmädchen“ und „Sozialschmarotzer“? Warum unterhalten wir uns nicht über den ehemaligen bayrischen Innenminister, der großen Wert darauf legte, zwischen „Ausländern, die uns nützen, und solchen die uns ausnützen“ zu unterscheiden? Wozu das Schweigen? Was ist mit Friedrich Merz und all den Debatten um „deutsche Leitkultur“? Die ganzen Gesinnungs- und Einbürgerungstests, als ob wir bekloppt wären. Ohrenbetäubend still.
Nach all den Jahren des Terrors und des Rassismus wird deutlich, was nicht im Mittelpunkt aller Debatten stand – und zwar die Wut und Trauer der Familienangehörigen, migrantische Perspektiven und die Thematisierung des Rassismus. Neonazis fühlen sich in solchen Zeiten ermutigt. Sie fühlen sich als die „Vollstrecker des Volkswillens“ und ermorden gezielt Menschen, die sie nicht als „Volk“ sehen. Sie ermorden Menschen, die von Sarrazin, Merz und jenen, die dafür gesorgt haben, dass die AfD Normalität ist, als nicht selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft gesehen werden. Wir sind Zeugen dieser Geschehnisse, wir haben eine große Verantwortung. Wir müssen Sorge tragen, all diese Gedenken wachzuhalten. Solange Rassismus nicht als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen wird, wird das Morden nicht aufhören. Unser Versprechen richtet sich gegen das Vergessen.
Den antifaschistischen und antirassistischen Selbstschutz organisieren!
Menschen mit Migrationsgeschichte sind heute doppelt so häufig von Armut und Hungerlöhnen betroffen. Wer einen ausländisch klingenden Namen hat, verlässt die Schule viel häufiger ohne Abschluss und findet sechsmal schwerer eine Wohnung. Regelmäßig werden junge Menschen mit oder ohne Verweis auf ihr „ausländisches“ Aussehen vor dem Club abgewiesen. Racial-Profiling ist Alltagsrealität auf der Straße und in den Behörden. Wir Kanacken in Deutschland erlernen deswegen schon früh Überlebensstrategien. Wir reden nicht gerne darüber, aber eine davon liegt in der stillschweigenden Anpassung an die herrschenden, rassistischen Verhältnisse. Der Neoliberalismus suggeriert mit diversity Vielfalt, freie Wahl und Freiheit – tatsächlich erwartet er von uns aber folgenden Deal: Wenn du dich in die „deutsche Leitkultur“ integrierst und damit anerkennst, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, wenn du mies bezahlte Arbeit machst, prekäre Wohnverhältnisse und mangelnde Bildungschancen akzeptierst, dann wird deine Existenz geduldet. Willkommen bist du aber nicht. Am besten vergisst und verleugnest du deine eigene Geschichte, denn dafür gibt es keinen Platz in dieser Gesellschaft.
Es gibt aber auch eine andere Überlebensstrategie. Sie ist zweifelsohne auch hart, denn ums Überleben geht es immer. Aber sie macht uns Mut und gibt uns Hoffnung, dass es uns und unseren Kindern irgendwann besser gehen könnte. Sie heißt „Nimm die Sache selbst in die Hand und organisier den Selbstschutz mit deinen Freunden, Kolleginnen, Nachbarn, Genossinnen und Familienangehörigen“. Zusammengefasst: Mach’s selber!
Wir nehmen uns das Recht und die Zeit, uns selbst zu verteidigen. Organisierter Antifaschismus. Wir warten nicht, bis Nazis wieder angreifen. Wir treten aus der Vereinzelung heraus. Wir bleiben nicht alleine. Dafür braucht es Strukturen. Dafür müssen wir Strukturen schaffen. Wie sieht es in der Linken damit aus? Kann sie sowas leisten? Wir sagen, nein, noch nicht. Aber das wird sie müssen. Denn in der Linken sind viele Menschen wie wir organisiert. Menschen, die tagtäglich rassistische Erfahrungen machen. Menschen, die zwischen Krieg und kapitalistischer Ausbeutung groß geworden sind.
Menschen, die Imperialismus hautnah erlebt oder durch familiäre Erzählungen verinnerlicht haben. Menschen, die vor deutschen Panzern aus ihren Dörfern und Städten geflüchtet sind. Menschen, deren Familiengeschichte nur aus Flucht besteht. Diese Geschichten sind so machtvoll, wir werden sie nicht los. Sie sind wie der Elefant im Raum. Diese Geschichten können nicht allein über parlamentarische Repräsentation und dem Ausbau des Sozialstaates befriedet werden. Wir glauben auch nicht an eine sozialdemokratische Linke, die in der Tradition der 1970er Jahre steht und für die Unterklasse – uns also – kein Angebot hat. Und was wir fatal fänden, ist eine linke Partei, die in ihrer Ansprache Geflüchteten Solidarität verwehrt und sich von AfD-Wählern erpressen lässt. In Deutschland leben ca. 30 Prozent Menschen, die eine migrantische Familiengeschichte haben. Ganz sicher können wir sagen, dass viele in der Linken nicht die Partei sehen, die sie repräsentiert, die sie wählen und in der sie aktiv werden wollen. Aber die anderen würden es tun, wenn sich die Linke kurz- und längerfristig strukturell anders aufstellt.
Erstens: Wir brauchen Orte des Zusammentreffens in der Partei. Orte, die von gemeinsamer Identität geprägt sind. Orte, die uns verbinden und gemeinsame Interessen sichtbar machen. Das kann eine Erzählung über Migration sein, muss es aber nicht. Es reicht, Haftbefehl zu hören oder KIZ. Megaloh oder Afrob. Trettmann oder Ebow. Oder Halay. Wir brauchen Orte jenseits des Sitzungssozialismus, Orte, die offen sind und es allen ermöglichen, sich einzubringen. Nur so kann eine aktive und attraktive Basis entstehen.
Zweitens: Wir brauchen noch mehr Orte des Widerstands außerhalb der Partei. Das können Bündnisse, Initiativen oder Netzwerke sein. Gegen hohe Mieten. Gegen Nazis. Gegen Rassismus. Für mehr Kita-Plätze oder für ein antirassistisches Gedenken. Wir gehen an diese Orte, wir führen mit allen diese Auseinandersetzungen und ist es nicht wichtig, eine Parteifahne dabei zu haben. Es geht bei diesen Auseinandersetzungen darum, kleine und große Erfolge mit anderen Menschen zu organisieren. Der Sache willen. Denn wie heißt es so schön? Klasse entsteht im Kampf.
Drittens: Darüber hinaus muss in der strategischen Orientierung der Partei besser abgebildet werden, dass die Linke der Ort ist, das politische Zuhause für all jene, die in der Gesellschaft am stärksten von Armut, sozialem Abstieg und Verdrängung betroffen sind. Dass die Linke der Ort ist, wo feministische Streiks, Betriebskämpfe, antirassistische und antifaschistische Anliegen, Kämpfe um Wohnraum oder gegen Krankenhausschließungen zusammengebracht werden. Die Linke muss der Ort werden, in dem Menschen Klassensolidarität erfahren. Jeden Tag. Wir müssen lernen, besser zu verbinden. Es braucht eine stärkere Vernetzung, es braucht eine bessere Repräsentanz und vor allem braucht es die Solidarität der Vielen. Jetzt ist die Zeit. Hier ist der Ort.
Inva Halili, Mizgin Ciftci (Ko-Kreis der Bewegungslinke)
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3 Antworten
Ein exzellenter Beitrag!