Befreiungstheologie arbeitet in drei Schritten: sehen-urteilen-handeln. Zum Sehen gehört es auch, die Wurzeln dessen, was man sieht, in der Geschichte, also die gewachsenen Tiefenstrukturen von Phänomenen wahrzunehmen. Die verschiedenen Krisen, die Menschheit und Erde bedrohen, stellen eine in sich zusammenhängende Gesamtkrise dar und zwar die Krise unserer fast dreitausendjährigen Zivilisation. Deshalb kann auch das Urteilen lernen von alten Philosophien und Religionen, insofern sie dieser Art von Zivilisation kritisch gegenüber standen und alternative Potentiale enthalten. Sollte es heute Bewegungen geben, die sich auf solche Quellen berufen, wären sie Bündnispartner für eine Transformation der herrschenden tödlichen und selbstmörderischen Zivilisation.
Befreiungstheologische Thesen von Ulrich Duchrow
Befreiungstheologie arbeitet in drei Schritten: sehen-urteilen-handeln. Zum Sehen gehört es auch, die Wurzeln dessen, was man sieht, in der Geschichte, also die gewachsenen Tiefenstrukturen von Phänomenen wahrzunehmen. Die verschiedenen Krisen, die Menschheit und Erde bedrohen, stellen eine in sich zusammenhängende Gesamtkrise dar und zwar die Krise unserer fast dreitausendjährigen Zivilisation. Deshalb kann auch das Urteilen lernen von alten Philosophien und Religionen, insofern sie dieser Art von Zivilisation kritisch gegenüber standen und alternative Potentiale enthalten. Sollte es heute Bewegungen geben, die sich auf solche Quellen berufen, wären sie Bündnispartner für eine Transformation der herrschenden tödlichen und selbstmörderischen Zivilisation.
1. Grundlagen der Moderne im Alten Orient und der Antike
Mit der Verbreitung der Geld-Privateigentum-Wirtschaft in arbeitsteilig werdenden Gesellschaften ab dem 8. Jh. v.u.Z. verändern sich nicht nur die Strukturen und Abläufe des Wirtschaftens, sondern auch die Seelen und das Denken der Menschen. Die Spiritualität der Solidarität in Beziehungen (durch Sprache) wird überlagert von der gierig kalkulierenden Rationalität des Geldsubjekts (Brodbeck[i]). Diese neue Rationalität verbindet sich mit dem männlich erobernden Wesen der imperialen Hierarchien. Ein erster Höhepunkt dieser Kombination von Geld-Eigentumswirtschaft und Imperiumsbildung sind die hellenistisch-römischen Weltreiche.
Es ist wichtig, diesen Ursprung unserer Probleme im Gedächtnis zu behalten, weil dadurch die Ansätze der damaligen biblischen Alternativen für unsere Situation direkt relevant werden. Und nicht nur sie – auch diejenigen anderer Religionen, wie z. B. des ebenfalls damals entstehenden Buddhismus.[ii] Alle Glaubensgemeinschaften und humanistischen Traditionen können auf dieser Basis selbstkritisch ihre Anpassung an die tödlichen Aspekte unserer Zivilisation reflektieren und Bündnisse zu deren Überwindung bilden.
2. Die Moderne
Das heißt, wir werden nur dann Alternativen entwickeln können, wenn wir gleichzeitig die wirtschaftlichen und politischen Strukturen auf der einen Seite und das menschliche Selbstverständnis, Denken und Handeln auf der anderen Seite verändern. Eine Änderung im Rahmen des Kapitalismus ist langfristig nicht denkbar, weil Kapital per definitionem nicht einfach Geld ist, sondern in Geld gemessenes Eigentum, das mit dem Zweck der abstrakten Vermehrung ständig re-investiert werden muss und so Wachstumszwang erzeugt. Dauerhaftes Wachstum ist aber ökologisch langfristig nicht möglich, weil er die Erde zerstört. Außerdem ist dieser Wachstumszwang ausschließlich durch Konkurrenz getrieben, die Menschen zur lebensnotwendigen Kooperation unfähig macht und sie in letzter Konsequenz zur Selbstzerstörung treibt.
3. Spirituelle und kulturelle Quellen für Alternativen
Der neuzeitliche Kapitalismus institutionalisiert die persönliche und strukturell-rationale Gier sowie das männlich-imperiale Denken und Handeln in Philosophie, Anthropologie, Wissenschaften, Technik, Recht, Politik und Ökonomie. Ziel der Wirtschaft ist Profitmaximierung des zum homo oeconomicus umdefinierten Individuums. Der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung ist die globale Herrschaft der Finanzmärkte über alle Lebensbereiche mit der Folge der Bedrohung des Lebens von Menschheit und Erde. Dies signalisiert die fundamentale Krise der westlichen Zivilisation (Wachstumszwang durch Kapitalakkumulation und Konsumismus, Zerstörung der Biosphäre, soziale Spaltungen, Entfremdung der Arbeit, seelische Krankheiten usw.). Sie zeigt die Irrationalität des Rationalisierten.
Es geht um eine neue Kultur des Lebens als Alternative zur westlichen zerstörerischen, ja, selbstzerstörerischen Zivilisation. Die biblischen Traditionen reagierten auf die Wirkungen der Geld-Privateigentum-Wirtschaft und deren Verbindung mit den Imperien mit fünf strategischen Ansätzen: Kritische und befreiende Prophetie, Befreiung sicherndes Recht, Widerstand, Alternativen in kleinen Gemeinschaften und grundsätzliche Kritik der Herrschaftsvernunft und des Gesetzes, das durch die Sünde der Gier tötet (Paulus). Gerechtigkeit ist der rote Faden, der sich seit dem Propheten Amos durch die gesamte Bibel zieht. Die Perspektive der Solidarität (agape, üblicherweise übersetzt mit Liebe) ist die Zusammenfassung der Propheten und der Tora. Auf dem ersten Höhepunkt dieser Zivilisation im Römischen Reich stellt Jesus der Herrschaft des Mammon und der Legionen das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit entgegen. Es ist durch die Gestalt des „menschlichen Menschen“ charakterisiert – im Gegensatz zu den raubtierhaften Weltreichen (vgl. Buch Daniel, Kap. 7 und Matthäusevangelium 25,31ff.). Es beginnt mit dem gemeinschaftlichen Leben im Geist des Messias. Der Islam knüpft an diese biblische Tradition an – ursprünglich im Kontext der Auseinandersetzung des Propheten Mohammed mit der reichen Händlerklasse Mekkas.
Der Buddhismus sieht die Ursache des gesellschaftlich verursachten Leidens in den drei Giften: Illusion eines beziehungslosen Ego, der daraus entspringenden Gier und Aggressivität, modern gesprochen im gewalttätigen Besitzindividualismus. Die Alternative kann nach dem Buddha eingeübt werden durch die meditative Erkenntnis, dass wir als Menschen immer und nur in Relationen zu allen anderen Lebewesen leben und leben können. Mitgefühl ist daher der Ausgangspunkt der Heilung und Befreiung. In der Praxis werden solidarische Gemeinschaften gebildet. Ähnlich sehen es indigene Kulturen: Menschen können nur in Gemeinschaft untereinander und mit Mutter Erde leben. Die afrikanische Ubuntu-Kultur drückt es so aus: „Ich lebe, weil du lebst. Du lebst, weil ich lebe“. Ähnlich sagt es der Taoismus und Konfuzianismus ebenso wie die ostasiatische Sangsaeng-Kultur, die Personen nur in Gemeinschaft denken kann. So können wir heute Befreiungstheologie interreligiös verstehen.
Solche Erkenntnisse tauchen neuerdings auch im Westen wieder auf, einmal in der Hirnforschung: „Warum ich fühle, was du fühlst – das Geheimnis der Spiegelneuronen“, und „Warum wir kooperieren“ (Joachim Bauer[iii]), weiter: „Descartes irrt“ (Damasio[iv]) – in Bezug auf den Dualismus von körper- und gefühlloser ratio als Subjekt gegenüber dem körperlichen Objekt sowie die daraus folgende Definition des Menschen als „Herrn und Besitzer der Natur“. Zum anderen bestreitet die Beziehungspsychologie die Freudsche Definition des Menschen als individualistischem Triebwesen und stellt dagegen die Erkenntnis, dass Menschen von Geburt an nur in vielfältigen Beziehungen existieren. Sogar die ökonomische Glücksforschung stellt fest, dass Menschen nicht durch endlose Ansammlung von Reichtum, sondern durch gelingende Beziehungen glücklich werden.[v]
Alle diese und weitere befreiungstheologische und -philosophische Quellen sind zu mobilisieren, um einer Kultur des Lebens in Solidarität und Gerechtigkeit in der Zukunft näher zu kommen. Ausgangspunkt ist die Unterordnung des egozentrischen rechnenden Denkens unter die sozialen Prozesse des Mit-einander-Sprechens in sozialen Prozessen. Die erste Frage darf nicht sein: „Rechnet sich das – für mich?“, sondern: „Wie können wir gemeinsam überleben und gut leben?“
4. Die strukturellen und persönlichen Alternativen heute
Wir haben nicht zwischen den falschen Alternativen der Moderne zu wählen, dem absoluten Privatkapitalismus und dem zentralistischen Staatskapitalismus. Vielmehr geht es um eine neue politische Ökonomie von unten für das Leben aller lebenden Kreaturen, das heißt auf Englisch people-centered, people-driven development in nachhaltiger Wechselwirkung mit der Natur, die als Gabe, nicht als Ware zu verstehen ist. Konkret geht es um die Umsetzung des Konzepts der Gemeingüter, die für den nachhaltigen Bedarf gemeinsam und in Selbstorganisation zu bewirtschaften sind, nicht um der Profitmaximierung der Kapitaleigner willen (Helfrich[vi]). Das schließt eine neue Eigentumsordnung von unten ein.[vii] Speziell ist das Geld von einer Ware zu einem politisch regulierten Gemeingut hin zu entwickeln (Akademie Solidarische Ökonomie[viii]). Auch der Markt muss seinen Sinn als Tauschforum wieder gewinnen, was in den großen, arbeitsteiligen Gesellschaften nur mit so etwas wie Geld, allerdings als Gemeingut, möglich ist. Zentral ist es, die Indikatoren für erfolgreiches Wirtschaften zu ändern: vom in Geld gerechneten Wachstum hin zum gleichzeitigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Erfolg.[ix]
Strategisch
geht es um das, was die ökumenische Basisbewegung Kairos Europa Doppelstrategie
nennt:[x]
1. im Kleinen, also vor allem lokal-regional, können wir beginnen, anders zu
handeln im Blick auf Tausch, alternativen Banken, Energieautarkie mit den
dezentral vorhandenen Mitteln Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und
lokal-regionaler Versorgung mit Grundnahrungsmitteln.[xi]
2. Im Blick auf die Makrostrukturen: Bündnisbildung für die Verteidigung und
Wiederaneignung aller Güter und Dienste der Grundversorgung in öffentlicher
Verantwortung: vor allem Land, Wasser, Energie, Transport, Wohnen, Bildung,
Gesundheit. Dieser Kampf gegen die Privatisierung kann gewonnen werden, weil
99% aller Menschen davon betroffen und darum mobilisierbar sind.
5. Die real existierenden befreiungstheologischen Bewegungen in den Religionen
Seit 1983 gab es in der christlichen Ökumene einen „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Im Zentrum stand und steht die Suche nach einer „Wirtschaft im Dienst des Lebens“. Im Ergebnis haben alle historischen Kirchen in offiziellen Versammlungen oder Schreiben den imperialen Kapitalismus verworfen: Die Lutheraner 2003, die Reformierten 2004, der Ökumenische Rat als Gemeinschaft aller protestantischen und orthodoxen Kirchen Anfang November 2013 und vierzehn Tage später Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Die Freude des Evangeliums“, worin er alles noch einmal auf den Punkt bringt:
„Diese
Wirtschaft tötet!….
Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung…
Nein zur neuen Vergötterung des Geldes…
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen…
Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.“
Ähnliches findet man in der islamischen Befreiungstheologie und dem „Internationalen Netzwerk engagierter Buddhisten.[xii]
6. Die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen
Wenn nach befreiungstheologischem, biblischem Verständnis die Liebe, d.h. die Solidarität auf der Basis der Beziehung zum Ursprung aller Kreaturen, entscheidendes Kriterium allen Denkens und Handelns in der Perspektive des Reiches Gottes ist (vgl. Mt 25, 31ff.), dann sind die sozialen Bewegungen (einschließlich der Gewerkschaften, wenn sie nicht nur Klientelpolitik betreiben) in allen Glaubensgemeinschaften und humanistischen Traditionen, die auf die Lebensgefährdung der Menschen und der Erde antworten, das Kriterium wahren Kircheseins. Die Bündnisbildung mit ihnen für Alternativen im Kleinen und Großen ist deshalb theologisch geboten.
All diese
alternativen Denk- und Handlungsweisen haben weltweit bereits begonnen und
nehmen täglich zu. Niemand kann sagen, ob sie sich schnell genug verbreiten
können, um die sich immer mehr zuspitzenden sozialen und ökologischen
Katastrophen zu stoppen. Das entschiedene Aufwachen von Kindern wie in Fridays
for Future lässt hoffen.
Mehr Informationen und eine ausführlichere Darstellung findet sich in: Durchow, Ulrich: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Hamburg u. Frankfurt/Main: VSA und Publik-Forum, 2017.
[i] BRODBECK, Karl-Heinz: Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, (2009) 2012.
[ii] Vgl. DUCHROW, Ulrich: Gieriges Geld: Auswege aus der Kapitalismusfalle – Befreiungstheologische Perspektiven. München: Kösel, 2013. (http://ulrich-duchrow.de/wp-content/uploads/2017/02/0000-Buch-Gieriges-Geld-komplett-9783466370696.pdf)
[iii] BAUER, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2005 6. Aufl.; ders., BAUER, Joachim: Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren. München: Heyne, 2008.
[iv] DAMASIO, Antonio R.: Descartes‘ Irrtum. Fühlen Denken und das menschliche Gehirn. München/Leipzig: List Verlag, (1995) 1997 3. Aufl.
[v] Vgl. DUCHROW, Ulrich/Bianchi, Reinhold/Krüger, René/Petracca, Vincenzo: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung . Hamburg/Oberursel: VSA in Kooperation mit Publik-Forum., 2006, (http://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Duchrow_Ulrich_Solidarisch_Mensch_werden.pdf)
[vi] HELFRICH, Silke/BOLLIER, David: Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld: transcript, 2019.
[vii] Vgl. DUCHROW, Ulrich / Hinkelammert, Franz J.: Leben ist mehr als Kapital. Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums. Oberursel: Publik Forum (2002), 2005 2. Aufl., Kap. 7.
[viii] Vgl. AKADEMIE SOLIDARISCHE ÖKONOMIE (Hrsg.), Harald Bender, Norbert Bernholt, Klaus Simon: Das dienende Geld. Die Befreiung der Wirtschaft vom Wachstumszwang. München: oekom, 2014, und FELBER, Christian: Retten wir den Euro. Wien: Deuticke, 2012.
[ix] Vgl. den Human Development Index und DIEFENBACHER, Hans u.a.: Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung im regionalen Bereich. Heidelberg: FEST, 1997.
[x] Vgl. Kairos Europa, 1998 Mai, Europäisches Kairos-Dokument für ein sozial gerechtes, lebensfreundliches und demokratisches Europa. Aufruf an die Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und andere interessierte Gruppen und Personen zur Bündnisbildung, Junge Kirche, Beilage zu H. 6/7, Bremen.
[xi] Vgl. Diefenbacher, Hans/Douthwaite, Richard, 1998, Jenseits der Globalisierung. Handbuch für lokales Wirtschaften, Grünewald, Mainz.
[xii] Die Belege für all dies finden sich in Duchrow, 2013 und ders. Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Hamburg u. Frankfurt/Main: VSA und Publik-Forum, 2017.
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