Am 150. Jubiläum des Geburtstages von Rosa Luxemburg blickt der sozialistische US-Autor Paul Le Blanc auf ihr Leben und ihre Vermächtnisse zurück. Zusammen mit Helen C. Scott überarbeitete Paul „Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei, gesammelte Werke“, das gerade von Pluto Press neu aufgelegt wurde, als Auswahl des Left Book Clubs.
Rosa Luxemburgs Suche nach Antworten über den Sinn des Lebens vermischte das Persönliche mit dem Politischen. Ihr Tod brachte ein Ende ihrer persönlichen Tragödien und Triumphe. Und doch hallen ihre Ideen und Anstrengungen auch an ihrem 150. Geburtstag diesen März noch nach.
Tragödien überwinden.
Selbst aus einem relativ privilegierten Elternhaus kommend, empfand Luxemburg es als eine Tragödie, dass einige Mitmenschen Analphabet*innen waren. Es schnitt diese von der wundersamen Welt, die sie selbst zwischen den Deckeln ihrer Bücher entdeckte, ab. Sie lehnte sich stark dagegen auf und versuchte schon als Kind einem/r der Hausangestellten ihrer Familie das Lesen beizubringen. Dieser innere Drang begleitete sie ein Leben lang, ein unersättliches Bedürfnis, dabei zu helfen, neue Welten zu eröffnen und Wissen mit allen Menschen zu teilen, vor allem mit jenen Menschen, denen diese Erfahrungen traditionell verwehrt wurden.
Doch das Leid war nicht nur auf Andere beschränkt. Luxemburgs frühe Kindheitserlebnisse bestanden auch aus einem Hüftleiden, das sie für ein Jahr ans Bett fesselte und sie für den Rest des Lebens beeinflusste. Als Kind war sie sich dessen schmerzlich bewusst, doch stellte sie bald fest, dass es noch andere „Tragödien“ in ihrem Leben gab – Schwierigkeiten, die allein daraus resultierten, dass sie war, wer sie war. Sie war eine Frau in einer Welt, in der Frauen noch mehr als heutzutage unterdrückt und abgewertet wurden. Sie war Polin und zu ihrer Zeit waren die Polen ein, vor allem von Russen und Deutschen, unterdrücktes Volk. Und sie war eine Jüdin, in einer Welt, in der der Antisemitismus ausgeprägter und einschränkender war, als es heute der Fall ist.
Zudem wurde Luxemburg aufmerksam auf die Unterdrückung einer geknechteten und verachteten Mehrheit von einer starken und privilegierten Minderheit, die die Leben von Millionen von Menschen zerstörten und verkümmern ließen. Sie identifizierte dies in Form der Klassengesellschaft, des Kolonialismus und des Imperialismus. Luxemburg nahm schmerzlich die vielfältigen Varianten von menschlicher Grausamkeit und Zerstörungswut gegen andere Menschen, gegen Tiere und den Planeten als ganzes wahr. Sie war überzeugt, dass solche Tragödien verhindert werden sollten – sie hasste sie. Sie brachte zu diesem Kampf eine dynamische Persönlichkeit, einen scharfen Blick und einen beißenden Humor mit – all das, was sie war.
Marxismus, Politik und Massenwirkung
Bei ihrem leidenschaftlichen Vorhaben, die Welt zu verstehen und zum Besseren zu verändern, fühlte sich Luxemburg stark zu der Orientierung und den Ideen Karl Marx‘ hingezogen. Folgendes wurde essentiell für ihren eigenen Ausblick auf die Dinge:
- Eine Philosophie oder eine Herangehensweise, die Realität zu verstehen, die dynamisch oder dialektisch ist, philosophisch materialistisch und humanistisch.
- Ein Verständnis der Geschichte, die von einer ökonomischen Entwicklung geformt wird. Eine besondere Betonung liegt auf den wundervollen technologischen Entwicklungen und dem Klassenkonflikt – die reiche und mächtige Minderheit und die arbeitende Mehrheit, aus der der Reichtum gequetscht wird.
- Eine Analyse unseres aktuellen ökonomischen Systems – dem Kapitalismus –, die diesen als unglaublich produktiv und dynamisch, gleichzeitig aber auch als extrem destruktiv ansieht. Dies resultiert in verschiedenen Problemen und Krisen. Und dies hauptsächlich, weil es eine Ökonomie ist, die von einer Minderheit beherrscht wird, die davon getrieben wird, Profit auf Kosten anderer zu machen und wenn nötig auch auf Kosten der gesamten Gesellschaft.
- Ein Glauben, dass die arbeitende Mehrheit im Kapitalismus ein politisches Programm entwickeln sollte und auch könnte, um ihre Interessen zu schützen und den Kapitalismus so letztendlich durch etwas Besseres zu ersetzen. Dies würde auch Konflikte um Reformen mit sich bringen – Veränderungen zum Besseren im Kapitalismus – und das Gründen von Gewerkschaften, um für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, und einer Arbeiterpartei, um „den Kampf um die Demokratie zu gewinnen“.
- Eine Vision von einer revolutionären sozialistischen Alternative zum Kapitalismus, die durch den Kampf und die Widerstände der Arbeiter und Unterdrückten erreicht werden könnte. Es war eine Vision einer ökonomischen Demokratie, bei der der Reichtum, der von der Mehrheit generiert wird, auch zum Nutzen aller genutzt würde.
Luxemburg war Teil einer globalen Bewegung der Arbeiterklasse. Sie ist in Polen geboren, aber zu Lebzeiten existierte Polen nicht als separates Land. Ein Teil davon gehörte zum russischen Reich und ein weiterer Teil zu Deutschland. Während sie einer kleinen polnischen sozialistischen Gruppe angehörte, beschloss sie, nach Berlin zu ziehen und einer großen, deutschen Sozialistenbewegung beizutreten. Zu dieser gehörten beachtliche Gewerkschaften, Organisationen von Frauen und jungen Menschen, Reformkampagnen, eine Vielzahl an kulturellen Unternehmungen und eine beachtliche politische Partei. Diese schaffte es, eine wachsende Zahl von Abgeordneten in den deutschen Reichstag zu bringen.
Einige einflussreiche Mitglieder der deutschen sozialistischen Bewegung, wie zum Beispiel Eduard Bernstein, brachten die Idee auf, dass es nur nötig wäre, mehr und mehr Reformen zu gewinnen und mehr und mehr Leute in den Reichstag zu wählen. Dies würde ausreichen, den Kapitalismus langsam in Sozialismus umzuformen. Und infolgedessen dachten sie, es wäre am realistischsten herauszufinden, wie man Wahlen gewinnen könne und wie man innerhalb des Parlaments agieren müsse, um die Reformen durchzusetzen, die ihnen wichtig waren. Luxemburg stimmte dem nicht zu.
Marx war dafür, Mitglieder der Arbeiterpartei für den Reichstag aufstellen zu lassen – und Luxemburg stimmte dem zu. Aber sie stimmte ihm auch bei Folgendem zu: Erstens würde der Staat oder die Regierung in einer kapitalistischen Gesellschaft mehr oder weniger von Kapitalisten kontrolliert. Zweitens würde das Gewinnen von Reformen entschiedene Massenproteste von Arbeitern und unterdrückten Bürgern außerhalb des Parlaments erfordern, um die kapitalistischen Arbeitgeber und die Regierung unter Druck zu setzen. Drittens seien die Probleme und destruktiven Mechanismen des Kapitalismus so tief verwurzelt, dass sie nicht einfach wegreformiert werden könnten. Und viertens würden die Kapitalisten letztendlich ihren Reichtum und ihre Macht dazu nutzen, sich zu wehren und die mehrheitliche Arbeiterklasse mit allen verfügbaren und nötigen Mitteln zu bezwingen und davon abzuhalten, den Kapitalismus mit dem Sozialismus zu ersetzen.
Dies bedeutete, dass eine Revolution nötig wäre, um den Kapitalismus zu besiegen, wie Luxemburg in ihrem antireformistischen Artikel „Reform oder Revolution“ argumentierte. In späteren Jahren erweiterte sie ihr und unser Verständnis, indem sie die umfangreich unersättlichen, gewalttätigen, inhumanen Dynamiken des Kapitalismus in ihrer Analyse des Imperialismus „Die Akkumulation des Kapitals“ rückverfolgte.
Hingezogen zum osteuropäischen revolutionären Wirbelwind von 1905 erlebte Luxemburg Massenproteste, Streiks und Aufstände. Dies waren gesellschaftliche Explosionen, die durch die beklemmenden Umstände und die Massen von Menschen, die alle das Gefühl hatten „Ich lasse das nicht mehr mit mir machen“ und „Wir stehen das hier zusammen durch“ und „In der Einigkeit liegt unsere Stärke!“ erzeugt wurden. Die halb-spontanen Massenbewegungen halfen den Arbeiterklassenorganisationen – Gewerkschaften, revolutionären Gruppen und so weiter – zu wachsen und Teilsiege zu erzielen.
Dies resultierte in Luxemburgs „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“. Sie argumentierte, dass diese Art von Massenbewegung, die sie 1905 erlebte, ausschlaggebend im Denken und politischen Planen der, wie sie es nannte, „sozialistischen Vorhut“ werden müsse. Einiger ihrer verängstigten Kameraden widerstanden diesem Ansatz. Aber viele radikaler eingestellte Arbeiter und sozialistische Intellektuelle sahen Sinn darin und setzen ihre Ideen in ihrem eigenen Handeln und Denken fort.
Luxemburgs Einfluss
Als eine brillante, mutige, wundervolle Frau mit einem lebendigen Idealismus und tief humanistischen Ideen, war Luxemburg eine anziehende Figur für viele Menschen, die unzufrieden waren mit den verschiedenen unterdrückenden Faktoren einer kapitalistischen Gesellschaft. Besonders für jüngere Menschen waren ihre politischen Ansichten sehr inspirierend, aber nicht nur für diese. Sie stand für eine profund demokratische und humanistische Version des Sozialismus. Dies war attraktiver als sowohl die demokratische Reformierung, die Kompromisse mit den Kapitalisten einging, als auch – in den Jahren nach ihrem Tod – die repressiven Diktaturen, die sich als „sozialistisch“ ausgaben, aber eigentlich von einer neuen herrschenden Elite kontrolliert wurden.
Viele der ökonomischen, sozialen und politischen Realitäten, die sie analysierte und mit denen sie haderte, sind den Schwierigkeiten, die den Menschen heute begegnen, sehr ähnlich. Sehr viele Menschen empfinden ihre Ideen und ihr Vorbild hilfreich bei dem Versuch, die Welt zu verstehen, und den Schwierigkeiten, diese zu ändern.
Die, die das bestehende soziale, wirtschaftliche und politische System beibehalten wollten, hassten sie, machten sich über sie lustig und attackierten sie mit „blutige Rosa“. Einige Mitglieder ihrer eigenen sozialistischen Bewegung waren völlig anderer Meinung als sie und bezeichneten sie als unrealistisch und sogar gefährlich. Andere lernten von ihr, ließen sich von ihr inspirieren und manche verehrten sie sogar. Sie war eine führende Vertreterin des revolutionären Flügels der sozialistischen Bewegung.
Als der erste Weltkrieg begann, lehnte sie diesen als ungerechtfertigt und imperialistisch ab. Zu dieser Zeit zeigten viele, auch Arbeiter und Sozialisten, eine passive Haltung und nahmen den Krieg hin oder unterstützen diesen sogar enthusiastisch unter dem Deckmantel des „Patriotismus“. Sie verbrachte mehrere zehrende Jahre im Gefängnis, weil sie sich weigerte, sich dem hinzugeben. Als der schreckliche Krieg dann endlich vorüber war, schlossen viele Menschen rückblickend, dass Luxemburg doch Recht gehabt hatte.
Selbst vor dem Kriegsende überwarfen 1917 Arbeiter- und Bauernaufstände in Russland erst die Monarchie und dann die pro- kapitalistische, provisorische Regierung. Die war eine Reaktion auf die Verwüstung des Krieges und gegen die sich anhäufende Unterdrückung und Ungerechtigkeit der Zaren, Aristokraten und Kapitalisten. Die Aufstände führten dazu, dass die Macht in die Hände des Demokratischen Rates fiel, den sogenannten Sowjets, angeführt von den Bolschewiki (Kommunistische Partei Russlands), bei denen Vladimir Lenin den Vorsitz hatte und die die ersten kommunistischen Bewegungen in Gang gesetzt hatten. Luxemburg mochte Lenin, stimmte ihm in vielen Dingen zu, aber hatte auch scharfe Auseinandersetzungen mit ihm, selbst während sie mitten in der Revolution von 1917 steckten. Sie warnte vor den Kompromissen – speziell die demokratischen Rechte betreffend, die Lenin und seine Kameraden während den Auseinandersetzungen der Revolution eingingen, um diese zu überstehen.
Da sie davon überzeugt war, dass die Lösung nur erreicht werden könnte, wenn andere, ökonomisch besser entwickelte Länder sich Russland in der Revolution anschlössen, verstärkte sie die Anstrengungen, deutsche Arbeiter zur sozialistischen Revolution zusammenzurufen.
Im Aufruhr, der 1919 in Deutschland herrschte, wurde sie von rechtsgerichteten Kräften ermordet, kurz nachdem sie dabei mitwirkte, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) zu gründen. Nachdem sie getötet worden war, wurde sie für viele zur Märtyrerheldin – andere wiederum beschmutzen die Erinnerung „der blutigen Rosa“.
Tragödien und Triumpf
Luxemburg überwand viele Hindernisse, um erstaunliche Dinge zu erreichen. Sie wurde zu einer einflussreichen politischen Figur, als Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht hatten, und zu einer treibenden Kraft in einer sozialistischen Bewegung, die von Männern dominiert war.
Sie war eine brillante Schriftstellerin und politische Analytikerin, eine einflussreiche Ökonomin, eine wichtige soziale Denkerin, deren Werke – oft leidenschaftlich – selbst heute noch gelesen werden, ein Jahrhundert nach ihrem Tod. Einige der Auseinandersetzungen, die sie zu unterstützen und zu stärken half, resultierten in wichtigen Gewinnen für Millionen von Menschen.
Luxemburg hatte wundervolle und schöne Freundschaften. Sie liebte und war in der Lage, in Literatur, kreatives Schaffen und Kultur einzutauchen. Sie wusste, wie man Spaß hat, und war beseelt von einem Staunen und einer Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben selbst. Sie lebte ein ausgefülltes, mutiges Leben voller positiver Energie – dessen war sie sich glücklicherweise nur zu bewusst. Sie hatte vieles bewegt, in mehr als nur einer Hinsicht.
Die Welt und das Leben sind voller Leid und Leiden war auch ein Teil von Luxemburgs Leben und Bewusstsein. Einige Menschen, die sie liebte, verließen sie, auf die eine oder andere Weise, manche auch durch den Tod. In manchen Momenten wurden die Grausamkeit und die Gewalt um sie herum zu einem Wirbelsturm, der sie umgab – und sie hatte nicht die Kraft, diesen aufzuhalten. Die Bewegung, der sie sich verschrieben hatte, schaffte es nicht, den Sozialismus durchzusetzen, für den sie den größten Teil ihres Lebens gekämpft hatte. Sie selbst war auf grausamste Weise ermordet und in einen Kanal geworfen worden, wo ihr Körper mit der Zeit erst aufquoll und dann verweste.
Luxemburg hatte noch drei Jahre vor ihrem Tod argumentiert, dass die Menschheit vor einer Entscheidung stand – im Sozialismus voranzuschreiten oder in der Barbarei unterzugehen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Sozialismus, den sie sich vorgestellt hatte, nirgends umgesetzt, doch hatten einige historische Entwicklungen tatsächlich extrem grausame, barbarische Züge. Dies umfasst zum Beispiel den Aufstieg von Faschismus und Nazismus, die stalinistische Abwertung des Kommunismus, die Weltwirtschaftskrise, ein zweiter Weltkrieg noch schlimmer als der erste und ein ausgedehnter Kalter Krieg mit vielen grotesken Auswüchsen auf beiden Seiten. Und dies erwähnt noch nicht einmal die ständige Gefahr der nuklearen Annihilierung.
Unser eigener funkelnder Konsumentenkapitalismus, mit den vielen technologischen Wundern, wird begleitet von einer wachsenden kulturellen und ökologischen Verschmutzung, unzähligen Ungleichheiten und durchstochen von Terrorismus, Gewalt und Plagen. Dies alles brachte uns etwas komplett anderes als die Zukunft, für die Luxemburg gekämpft hatte. Es bleibt herauszufinden, ob die Tragödie sich im 21. Jahrhundert fortsetzt und zu Ende gebracht wird oder ob es einen Triumph gibt, der sich mehr mit ihren Vorstellungen vereinbaren lässt.
Dieser Text von Paul Le Blanc erschien zuerst auf der Seite Socialist Workers Party und wurde von Linda Conrad ins Deutsche übersetzt.
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