Ein palästinensisches Kind sein, seit Oktober 2023 – und davor

Kind in Gaza - Bild: Hosny Salah

Die britische Tageszeitung „The Guardian“ veröffentlichte am 8. Oktober 2025 eine Todesliste aller 18,457 Kinder, die in Gaza seit Oktober 2023 und bis Ende Juli 2025 Kriegsopfer wurden. Der Beitrag trug den Titel “Young lives cut short on an unimaginable scale: the 18,457 children on Gaza’s list of war dead”. Die Liste, so war darin zu lesen, sei alles andere als vollständig, tausende Kinder seien unidentifiziert, unter den Trümmern verschüttet, viele weitere seien indirekte Opfer des Krieges, sie seien etwa aufgrund von Mangelernährung gestorben.

Die Kinder werden mit Alter und Namen vorgestellt und soweit vorhanden und bekannt wird ein Foto und ein kurzer Bericht, wie sie gestorben sind, angefügt. Zwei Geschichten habe ich mir gemerkt und sie stehen hier für manche andere: Da ist Nahed, 15 Jahre alt. Die Bewohner der Region waren zur Evakuierung aufgefordert, sie sollten in eine Region westlich von Khan Younis ziehen. Die Augenzeugen, darunter ein Mitarbeiter einer in Genf basierten medizinischen Hilfsorganisation, sagten aus, Nahed habe seine Familie angeführt, mit einer weißen Flagge in der Hand. Er war erst wenige Meter vom Haus entfernt, als ihn eine Kugel ins Bein traf. Als er sich ins Haus retten wollte, wurde er in den Rücken und den Kopf geschossen. Sein 20jähriger Bruder, der ihn bergen wollte, wurde durch einen Schuss in den Kopf getötet. Und dann ist da Rakan, 10 Jahre alt, er und seine ganze Familie sind auch ägyptische Staatsbürger und die Familie hatte vor, auszuwandern. Beide Eltern sind Ärzte. Das Haus wurde bombardiert. Die Mutter war schon bei der Arbeit, der Vater und neun Kinder, darunter Rakan, kamen ums Leben; ein Bruder überlebte, schwer verletzt. Rakan strahlt auf dem Foto, das die Todesnachricht begleitet, ein Bild aus glücklichen Tagen. Ich habe noch mehrere Minuten lang in der Liste gelesen. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und mein Kopf hat sich geweigert, weitere Geschichten aufzunehmen und abzuspeichern.

Gaza 2100 – Die Überlebendes des Genozids

Im Jahr 2100, so habe ich mir überlegt, werden ich und die meisten von Ihnen, liebe Leser*innen, die das hier lesen, nicht mehr leben. Von den Menschen, die jetzt den Völkermord in Gaza überleben, werden aber viele noch leben, denn 49 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind Kinder. Manche werden vor ihren Großkindern oder Urgroßkindern sitzen und ihnen erzählen, wie es war, wie sie ihre Geschwister, ihre Eltern, ihre Freunde, ihren Arm oder ihre Beine oder eben auch „nur“ ihr Haus verloren haben, wie sie sich diese Narben zugezogen haben, die sie verunstalten. Die Kinder werden zuhören und Mitleid fühlen und sie werden diese Geschichten ihr ganzes Leben lang und also bis weit ins 22. Jahrhundert hinein nicht vergessen. Das ist so sicher, wie die palästinensischen Menschen, mit denen ich Interviews zu ihren Lebensgeschichten und vor allem zu ihrer Kindheit geführt habe, mir von den schrecklichen Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern erzählt haben. Es waren Erfahrungen von der Nakba, vom Massaker in einem Flüchtlingslager im Libanon und von der Flucht aus dem Westjordanland nach dem Sechstagekrieg. Meine Interviewten wiesen darauf hin, dass diese Geschichten immer wieder erzählt worden seien, dass sich die ganze Familie um die Erzähler versammelte. Das war schon eine lange Kette von Erfahrungen, die so übermittelt wurde, und die Erzählungen stellten sicher, dass die verlorenen Menschen, die verlorenen Plätze, die verlorenen Häuser und Bäume nicht vergessen gehen. In der palästinensischen Bevölkerung spielt die Erzählung eine große Rolle; das zeigt eindrücklich das 2018 erschienene Buch von Kawthar El-Qasem „Palästina erzählen“ . Die Kette wird mit jedem Tag länger und es sind immer wieder die gleichen Ereignisse, die sich aneinanderreihen: Vertreibung, Verlust von Hab und Gut, Absprechen der Würde, Gefangennahme, Tötung. Und auch, wenn die Welt sich jetzt endlich um einen stabilen Frieden bemüht, wirft das leidvolle Geschehen einen langen Schatten in die Zukunft.

Leben unter Besatzung

Ein palästinensisches Kind zu sein, bedeutet aber nicht nur, unter Krieg und Vertreibung zu leiden. Auch wenn kein Krieg herrscht und das heißt: auch schon lange vor Oktober 2023 und also auch nach einem möglichen Waffenstillstand, schränkte und schränkt die Besetzung ihr Leben als Kinder krass ein. Das lässt sich sehr klar am engen Bewegungsradius zeigen. Kinder, die eine halbe Autostunde vom Meer entfernt wohnen, haben dieses unter Umständen nie in ihrer Kindheit gesehen, weil sie die Grenze zu Israel nicht passieren können. Der Urlaub, wenn man keinen Pass besitzt und das Gebiet, in dem man lebt, abgeriegelt ist, beinhaltet selbstverständlich keine Reisen. Die kanadische Forscherin, Bree Akesson, berichtet von ihrer Feldforschung im Westjordanland von einer Busreise nach Jerusalem, die in einer Kindergartenklasse geplant wurde –, es wären weniger als 60 km Distanz gewesen. Wegen aller Kontrollen und Restriktionen wird die Reise durch das Betrachten von Fotos und Erzählen von Geschichten ersetzt. Aber, auch der ganz alltägliche Weg zur Schule oder zum Nachbarschaftsladen kann zum Hindernislauf werden, wenn vermehrte Kontrollen zu passieren sind und Straßensperren Umwege erfordern. Allgemeine Ausgangssperren bedeuten Hausarrest für die Kinder und können Stunden, Tage oder Wochen dauern. Für die Mädchen ist der Bewegungsradius noch geringer, weil die Familien darauf achten, was sich für ein Mädchen ziemt und was sich nicht ziemt. Tun die Familien es nicht, besorgt das die soziale Kontrolle unter Nachbarn. Dazu kommt, dass viele Wohngebiete und vor allem Flüchtlingslager überbevölkert sind und das zu Gewalt, vor allem auch unter den Jungen im Viertel, führen kann. Vor allem für die Jungen addiert sich auch die Gefahr willkürlicher Verhaftungen durch die Besatzungsmacht dazu.

Kindheit zwischen Vertreibung und Entrechtung

Wenn die palästinensischen Kinder nicht in Palästina aufwachsen, sondern in Jordanien, im Libanon, in Syrien, in Golfstaaten oder irgendwo auf der Welt und in den zum Teil abrupten und extremen Migrationsbewegungen, die die Situation der Familie erfordert, kommt ein weiteres Problem dazu: die Diskriminierung. Diese erfahren die palästinensischen Kinder auch, wenn ihre Familien nach Deutschland migrieren. Anders als in den besetzten Gebieten oder auch in Israel selber beruht diese dann nicht so sehr darauf, dass für sie andere Gesetze gelten würden, schlechter ausgestattete Schulen vorgesehen sind, schlechtere oder gar keine Spielplätze vorhanden sind. Es handelt sich nicht um Apartheid, aber es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Schule nicht vom Schicksal ihres Volkes erzählen dürfen, dass sie ihre Sicht auf die Dinge nicht aussprechen dürfen, dass sie erleben, dass um Kinder wie sie nicht offiziell getrauert wird, dass sie und ihresgleichen im Verdacht des Terrorismus stehen. Das verletzt und entwertet.

Wenn Kinderrechte, wie sie die UN deklariert hat und wie sie 196 Staaten ratifiziert haben, es ist das am häufigsten ratifizierte Menschenrechtsabkommen der Welt, endlich auch für palästinensische Kinder gelten sollen, dann hat die Welt viel zu verbessern. Es ist wichtig, dass sie dann nicht einfach nach ihrem Gutdünken verfährt, sondern aufmerksam hinhört, wie es den palästinensischen Kindern geht und was ihre Forderungen sind. Vielleicht erzählen dann im Jahr 2100 die heutigen palästinensischen Kinder ihren Großkindern auch, was sich seit damals alles geändert, zum Guten gewendet hat, welche Anerkennung sie erfahren haben und wie ihnen das half, mit dem Grauen fertig zu werden. Für einmal könnten wir ja alles besser machen als bisher!

Ein Beitrag von Doris Bühler-Niederberger, Dr. phil., Professorin emerita für Soziologie der Universität Wuppertal; ehemalige Präsidentin der Forschungskommission „Soziologie der Kindheit“ der Internationalen Gesellschaft für Soziologie (ISA) und langjährige Sprecherin der Sektion „Soziologie der Kindheit“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Vor kurzem erschien von ihr das gemeinsam mit Manfred Liebl verfasste Werk „Palästinensische Kindheit und Jugend – Aufwachsen in Konstellationen von Ausgrenzung und Gewalt“.

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