Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten

…in Klaus Dörres Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution Teil 2

Im Teil 2 der Besprechung (Teil 1 findet sich hier) von Dörre Buch geht es um die Frage, inwieweit der Autor seinem Anspruch gerecht wird, „Konturen nachhaltig sozialistischer Gesellschaften“ zu zeichnen. Hinsichtlich der historischen Erfahrungen, an die wir bei der Suche nach dem Ökosozialismus des 21. Jahrhundert anknüpfen können,  werden im nachfolgenden Text ganz andere Bezugspunkte genannt als von  Dörre in seinem Buch.

„Heutzutage gehören die Karten auf den Tisch. Zumindest die Umrisse einer nachhaltig sozialistischen Gesellschaft müssen so klar wie möglich gezeichnet werden, damit alle wissen, worauf sie sich einlassen, wenn vom Sozialismus der Zukunft die Rede ist.“ S. 117 so  Klaus Dörre zu Beginn des Kapitels 7, in dem er verspricht, die „Konturen nachhaltig, sozialistischer Gesellschaften zu entwickeln. Was er dann konkret vorstellt, hat mich allerdings stark enttäuscht. Da ist ganz vage die Rede von „kollektivem Eigentum an oder in großen Unternehmen“ (was soll denn das sein?), von „kooperativer Marktwirtschaft mit kleineren Unternehmungen“ von „Wirtschaftsdemokratie“  und „Nachhaltigkeits- und Transformationsräten als Innovationen im politischen System.

Wie die „Wirtschaftsdemokratie“ konkret ausgestaltet sein soll, erläutert Dörre an dieser Stelle nicht. Deswegen kommt er für mich hier wenig überzeugend rüber. War doch das  Konzept der sogenannten Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik ein politischer Gassenhauer von Sozialdemokratie und ADGB-Führung, deren Politik nicht darauf angelegt war, den Kapitalismus zu überwinden, sondern den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen.  Mir bleibt fast die Spucke weg, wenn  darin lesen muss:  „Das Stiftungsunternehmen ist ebenfalls eine Form, die dem Prinzip des kollektiven Selbsteigentums bereits unter kapitalistischen Bedingungen Rechnung trägt. Der Übergang zu solchen Eigentumsverhältnissen ließe sich verhältnismäßig einfach bewerkstelligen, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre. So könnten Staatshilfen für private Unternehmen mit Verfügungsrechten für Beschäftigte oder gesellschaftliche Fonds bezahlt werden. Sobald dergleichen geschähe, würde die Sozialisierung von Entscheidungsmacht mittels Internalisierung von  Sozialkosten, die die kapitalistische Produktionsweise verursacht, zu einem Prozess, der einer Revolution ohne einmaligem Akt der Machtergreifung gleichkäme.“  (S. 126)   Dazu muss mensch wissen: Sowohl ZF in Friedrichhaften als auch Mahle und Bosch in Stuttgart, also drei der großen Autozulieferer, sind Stiftungsunternehmen. Will uns Klaus Dörre ernsthaft erzählen, dass diese Firmen, die sich derzeit durch heftigen Personalabbau und auch Betriebsschließungen hervortun, Keimzellen des Sozialismus sind?

Der Begriff der „Transformationsräte“  ist zurzeit besonders in gewerkschaftlichen Kreisen hoch im Kurs- als inhaltslose Leerformel.  So gut wie nie wird gesagt, was das denn konkret beinhalten soll.   Leider konkretisiert auch Klaus Dörre nicht,  was er  damit meint. Ein Blick auf die Webseite des IG Metall Bezirks Mitte gibt einen Eindruck davon,  was  „Transformationsräte“ real für die IG Metall beinhaltet:  „Auf Initiative der IG Metall wurde Ende des Jahres 2019 durch Ministerpräsidentin Dreyer der Transformationsrat Rheinland-Pfalz gegründet. Das Gremium setzt sich aus Vertretern der Landesregierung, der Gewerkschaften IG Metall und IG BCE sowie des DGB, der Landesvereinigung der Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz (LVU), der Handwerkskammern, der Industrie- und Handelskammern sowie der Bundesagentur für Arbeit zusammen. Im Rahmen dieses Gremiums wird über notwendige Maßnahmen zum Erhalt und Ausbau industrieller Wertschöpfung sowie zur Qualifizierung und Weiterbildung der Beschäftigten beraten.“  3)

Ist es wirklich das, was Klaus Dörre bei Transformationsräten vorschwebt? 

Mitbestimmung oder Bruch?

Nachdem Dörre über längere Passagen des Buches bei seinen Änderungsvorschlägen eher wachsweich daher kommt, scheint er dann im Kapitel  „Sozialisierung von Großunternehmen – ein notwendiger Bruch“ – zu meiner Freude – den Unternehmern zeigen zu wollen, wo der Hammer hängt: „Die Begrenztheit des Erdballs, seiner Ressourcen und Lebewesen steht der Möglichkeit zu fortgesetzter unendlicher Marktexpansion entgegen. Deshalb muss es in den Großunternehmen zu einem Bruch mit dem kapitalistischen Besitz als dynamischem Prinzip kommen.“ (s. 125)  Leider währt meine Freude nicht lange. Klaus Dörre legt kurz darauf wieder eine ganz andere Platte auf:  Er formuliert: „Nachhaltig sozialistische Gesellschaften benötigen kollektives Selbsteigentum.“ Formen kollektiven Selbsteigentums sind für ihn: Wohnkooperativen, Energie – und Agrargenossenschaften, Mitarbeitergesellschaften und Einrichtungen der solidarisieren Ökonomie. Zuletzt tauchen auch hier wieder die Stiftungsunternehmen auf.   Und so soll laut Dörre die Sache von statten gehen. „ Der Übergang zu solchen Eigentumsverhältnissen ließe sich verhältnismäßig leicht bewerkstelligen, wenn der politische Wille vorhanden wäre. So könnten Staatshilfen für private Unternehmen mit Verfügungsrechten für Beschäftigte oder gesellschaftliche Fonds bezahlt werden.“  Hat Dörre nicht wahrgenommen, wie das bei der Lufthansa lief? Dort hat uns Lufthansa –Chef Carsten Spohr Bosse sehr eindrücklich vorgeführt, wie große Konzerne mit stattlichen staatlichen Rettungspaketen umzugehen pflegen. Spohr weigerte sich strikt, dem Staat im Gegenzug zu  9 Milliarden staatlicher Rettungsspritze irgendwelche Einflussrechte auf die Geschäftspolitik der Lufthansa einzuräumen.  Und was sagt der zuständige Minister Peter Altmaier dazu? „“Der Staat sollte sich da raushalten, er ist kein guter Unternehmer.“ Die Frage an Klaus Dörre wäre: Was soll denn Deiner Meinung nach passieren, damit bürgerliche Regierungen sich so verhalten, wie es Klaus Dörre sich wünscht, und machtbewusste Manager sich so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen?  

Im Unterabschnitt „Wirtschaftsdemokratie: Umverteilung von Entscheidungsmacht“  schreibt Dörre: „Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass winzige Managereliten darüber befinden, welche Produkte für die Menschheit bedeutsam  und welche unwichtig sind. Produktionsentscheidungen  müssen radikal demokratisiert, das heißt für die Zivilgesellschaft geöffnet werden.“ …. „Es geht um Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solche tiefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirtschaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder in der ökologischen noch in der sozialen  Dimension realisieren lassen.“  S. 134/35  Ich teile hier das Anliegen von Dörre, nicht aber Dörres Schlussfolgerungen. Dörres Verweis auf die Mitbestimmung („Auf der Ebene von Arbeitsprozessen  kann an Konzepte einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz angeknüpft werden.“) kommt mir reichlich weltfremd vor.  Vielleicht sollte Dörre ernsthaft darüber nachdenken, was die Bertelsmann-Stiftung und die gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Bezug auf die in der BRD real existierende Mitbestimmung festgestellt haben:  „Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 hat in der Praxis, entgegen derzeitigen Befürchtungen, die Eigentumsrechte der Kapitaleigner grundsätzlich nicht eingeschränkt. Die Strategie der Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, wird von ihren Vorständen und Anteilseignern bestimmt und nicht von den Arbeitnehmervertretern.“ Und ansonsten wäre Dörre zu empfehlen noch mal ein altes Buch seines Kollegen Frank  Deppe aus dem Jahr 1973 noch mal zu Gemüte führen:  „Kritik der Mitbestimmung – Partnerschaft oder Klassenkampf?“ 4)

Es geht auch anders

Wenn es darum geht, die Gesellschaftsstruktur radikal umzuwälzen, ist es nützlich, an bestimmte Erfahrungen andocken zu können, die Anregungen für unser Vorhaben geben können. Leider ist Dörres Blickwinkel verengt auf Überlegungen und Modelle linkssozialdemokratischer Provenienz, die sich in der einen oder anderen Form mit der Mitbestimmung zu tun haben. Wichtige konkrete Erfahrungen der Selbstermächtigung, wo Arbeiterinnen und Arbeiter auf Betriebsebene oder  auf Regionsebene, in Fabrikräten, mittels Arbeiterkontrolle, mit Betriebsbesetzungen oder auf Landesebene wie in der jugoslawischen Arbeiterinnenselbstverwaltung  das Heft aus der Hand genommen haben, scheinen für Dörre gar nicht zu existieren. Dabei wurde handfest und praktisch gezeigt, dass kapitalistische Ideologen auf dem Holzweg sind, wenn sie behaupten: Es geht nichts ohne den Unternehmer, der die Produktion organisiert und  seine Beschäftigten zur Arbeit antreibt, weil er auf die Erzielung von Gewinn aus ist. Im Lauf der Geschichte gibt es zahllose Beispiele dafür, dass es auch anders geht. In zahlreichen selbstverwalteten Betrieben wurde konkret bewiesen, dass es möglich  ist,  auch Betriebe mit hochkomplexen Produktionsprozessen  ohne  Chefs, mit  einer  basisdemokratischen  Koordinations-    und    Versammlungsstruktur,  zu  leiten. 5)

In der besetzten Keramikfabrik FaSinPat (früher Zanón) in Nequem, dem nördlichsten Teil der argentinischen Provinz Patagonien, gibt es keine Chefs mehr.  Sämtliche Entscheidungen werden auf Versammlungen getroffen:  Je nach Thema werden Abteilungs-,  Schicht- oder Vollversammlungen abgehalten und über die anstehenden Aufgaben entschieden. Bei FaSinPat übernehmen die Produktionsarbeiter sämtliche Aufgaben, auch in Bereichen, die sie früher nicht einmal betreten durften. Sie machen sich mit Einkauf, Computern und Buchführung vertraut, organisieren den Verkauf neu, bilden eine Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, nehmen die Siebdruckwerkstatt und das Labor in Betrieb.

Im „roten Sommer der Anarchie“ 1936 in Katalonien nahmen die Beschäftigten in fast allen Betrieben das Heft selbst in die Hand. In Barcelona beschlagnahmten die Arbeiterinnen  1936 nach der Niederschlagung des Putsches der Generäle die meisten größeren Fabriken  und  alle bedeutenden Dienstleistungsunternehmen (Stadtwerke und Verkehrsmittel), Hotels und Warenhäuser. Hinzu kam die Mehrzahl der Industriebetriebe und Schifffahrtsgesellschaften: Ford Motor Ibérica, Hispano Suiza, Societe de Petroles, Asland Zement, Transportes Maritimes.  Die Übernahme der großen Industrieunternehmen vollzog sich mit erstaunlicher Leichtigkeit und ohne Produktionsstörungen. Die Arbeiterinnen wählten auf Belegschaftsversammlungen eigene Betriebsleitungen. Die Fabrikkomitees führten die Betriebe unter Hinzuziehung aller hierzu erforderlichen technischen und kaufmännischen Fachleute weiter. Die Versorgungs- und Verkehrsbetriebe von Barcelona wurden von gemeinsamen CNT/UGT Ausschüssen geleitet; bereits zwei Tage nach dem Aufstand waren sie wieder in Betrieb: Straßenbahnen, Autobusse und U-Bahn funktionierten normal, Gas und Strom wurden ohne Pannen geliefert.6)

Im jugoslawischen  „Gesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsunternehmen“ vom Juni 1950, dem Grundgesetz der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, steht geschrieben:  Die Arbeiterräte entschieden über Produktion, Geschäftsgebaren und Organisation des Unternehmens. Ihnen obliegt die Genehmigung des Wirtschaftsplans. Der Direktor war offiziell der „oberste Angestellte“ des Betriebs. Er hatte die Entscheidungen, die die kollektiven Verwaltungsorgane artikulierten, umzusetzen. Interessanterweise hatte die Belegschaft hatte bei der Einstellung des Direktors Mitspracherecht. Sie legte das Gehalt des Direktors fest und hatte Möglichkeiten, die Absetzung des Direktors in die Wege zu leiten. 7)

Tatsächlich war die Praxis von Unternehmen zu Unternehmen natürlich sehr verschieden und durchaus durchwachsen. Bei einigen lief es gut, bei anderen weniger gut. Sicherlich lief in der Praxis einiges ganz anders als es auf dem Papier geschrieben stand. Meine Überzeugung ist:  Die Auswertung der Erfahrungen mit der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung kann uns in Sachen Demokratisierung der Betriebe sicher mehr Anregungen geben als irgendwelche handzahmen Mitbestimmungspapiere der IG Metall.  

Resümee

Dörres Buch hat Licht und Schatten. Es hat anregende Abschnitte, die inspirieren und Denkanstöße geben. Ich finde im Buch aber auch viel Widersprüchliches und, leider, auch viele Schwachstellen. Es gibt viele Passagen,  die linksradikale Kritiker aufgreifen können, um Dörre als unverbesserlichen Reformisten zu „entlarven“. Solche „Entlarvungen“ bringen uns aber nicht weiter. Ich meine, wir sollten versuchen, die Debatte sachlich und konkret zu halten.Es ist ein Verdienst von Dörre, dass er mit dem Buch ein breites Spektrum von Themenfeldern eröffnet. Zu vielen dieser Themen hat die gesamte Linke bisher wenig von Substanz zu sagen. Mag sein, dass es Spezialistinnen zu einigen Bereichen gibt. Aber es kommt darauf an solches Wissen zu kollektivieren.

Es wäre zu wünschen, dass die gesamte Linke den von Dörre gespielten Steilpass aufnimmt und in die sicher umfangreiche und wohl andauernde Debatte um die Frage einsteigt, wie eine emanzipatorische, humane, umfassend demokratische, soziale und ökologisch nachhaltige Alternative zum realexistierenden Kapitalismus, der sich immer mehr als Katastrophenkapitalismus erweist, aussehen kann. Es geht um eine Welt, in der nicht die Erzielung der Maximalrendite, sondern die Förderung menschlichen Wohlbefindens Maß des Handelns ist.  Selbst wer die grundsätzlichen Positionen von Dörre ablehnt, tut gut daran, sich mit dem von ihm aufgefahrenen Material zu befassen.  Ich mache öfters die Erfahrung, dass ich im Konkreten bei  Texten von „Reformisten“ oder Linksbürgerlichen durchaus einiges lernen kann, selbst wenn ich sie in der generellen Linie stark kritisiere. Ich meine, eine solche  Herangehensweise wäre bei der Diskussion um Dörres Buch angebracht.  Die notwendige „Neuvermessung der Utopie“ ist zweifellos eine Herkulesaufgabe. Wenn wir das stemmen wollen, bedarf es auf Seiten aller Beteiligten der Bereitschaft zur Kooperation auf gleicher Augenhöhe und eines solidarischen Umgangs miteinander.

Anmerkungen:

  1. Den Bankensektor neu ordnen – und mit der Vergesellschaftung beginnen“ in Michael Brie, Richard Detje, Klaus Steinitz: Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert, Hamburg 2011
  2. Ian Angus: „Im Angesicht des Anthropozäns – Klima und Gesellschaft in der Krise“, Münster 2020
  3. https://www.igmetall-bezirk-mitte.de/transformation/transformationsrat-rheinland-pfalz
  4. Frank Deppe, Jutta von Freyberg, Christof Kievenheim, Regine Meyer, Frank Werkmeister: Kritik der Mitbestimmung,Partnerschaft oder Klassenkampf?
  5. Dazu zwei Texte von mir: „Demokratische Planwirtschaft – mehr als ein frommer Wunsch?“ in „die Internationale“ Juli/August 2021;  „Zentral, dezentral, demokratisch“ in  Die Internationale“    Sept./Okt. 2021)
  6. Andy Durgan: „Arbeiterdemokratie in der spanischen Revolution 1936/37“   erschienen in:     Dario Azzellini/Immannuel Ness (Hrsg.) Die endlich entdeckte politische Form – Fabrikräte und Selbstverwaltung  von der russischen Revolution bis heute, Karlsruhe 2012
  7.  Paul Michel (Hrsg.): Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung : Licht und Schatten, Karlsruhe 2020

Paul Michel arbeitet mit im „Netzwerk Ökosozialismus“. Ein  Beitrag des „Netzwerk Ökosozialismus“ wird sein, eine Reihe von Texten von Autoren aus dem englischsprachigen Raum ins Deutsche zu übersetzen und auf der Webseite https://netzwerk-oekosozialismus.de/ zugänglich zu machen. Im englischsprachigen Raum (USA, GB, Kanada, Australien) ist die Debatte um Ökosozialismus deutlich weiter entwickelt als in der BRD.

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