Hakenkreuze und Hormone

In der Nacht zum 23. September 2017 wurde ein Teil der Skulptur „Sketch for a Fountain“ der Künstlerin Nicole Eisenman in Münster beschmiert. © Thorsten Geuting

Von Papierbooten und Mutproben. Von Joints, Abspritzen und Antideutschen. Von Hakenkreuzen und Hormonen. Eine Kurzgeschichte von Tair Borchardt.

Als ich in der zweiten Klasse war, bekamen wir einmal die Aufgabe, Papierboote zu falten und zu bemalen. Eine Freundin von mir malte daraufhin ein Hakenkreuz auf den Mast ihres Bootes. Der Vater arbeitete für den Spiegel und bei so vielen Hitler-Titelstorys braucht man sich nicht lange wundern, wo die Inspiration herkommt. Als meine Klassenlehrerin das bemerkte, intervenierte sie und erklärte der gesamten Klasse, dass das auf keinen Fall gemalt werden dürfe. Das ist ein böses Symbol. Und es hat einmal eine sehr, sehr dunkle Zeit gegeben, in der deutschen Geschichte.

In dieser Schulstunde habe ich das erste Mal bewusst vom Hakenkreuz als Symbol mitbekommen. Meine Eltern haben uns Kinder lange von dem Thema ferngehalten, ohne es aber totzuschweigen. Interessant ist, dass ich – ein siebenjähriges jüdisches Mädchen – direkt einen emotional beladenen Eindruck davon bekommen haben muss, der in einer Eigenanfertigung einer roten Kreide-Swastika auf der Terrasse zu Hause endete. (Ich weiß nicht mehr, ob ich die Haken rechts- oder linksrum gezogen habe.) Diesmal intervenierte mein Vater und ich musste die Swastika wegwaschen und habe mich lange geschämt. Bei sowas ist ein „jüdischer Hintergrund“ aber ziemlich hilfreich.

Irgendwann später bin ich auf der Oberschule. Und da sind andere Kinder, die eigentlich gar keine Kinder mehr sind. Wir kriegen Schamhaare, die Grenzen unserer Welt verschieben sich, müssen ausprobiert und ausgelotet werden. Vielleicht kann man sich dann selbst wieder irgendwo verorten – orten, eigene Koordinaten finden.

Grenzen werden ausgelotet. Wichtig ist, dass man irgendwann abspritzen kann und dann redet man drüber und was für einen Porno man letztens gesehen hat und vielleicht hat man jemanden geküsst, mal geraucht. Was anderes geraucht und getrunken sowieso. Das kann auch gegensätzlich ablaufen. Man schämt sich so viel wie noch nie. Jedes Tabu, das sich finden lässt, wird genaustens untersucht. Es wird hin- und hergeschoben. Das muss man auch, wenn man die Welt infrage stellt.

Und in genau dieser Zeit tauchen auf Tischen und an Wänden Zeichnungen auf, Symbole einer jeden Grenze. Jegliche Darstellung eines männlichen Glieds. Brüste in allen Farben und Formen. Zigaretten und Joints, so dick wie bei Bob Marley. SS-Symbol, „Heil Hitler“ und ein Hakenkreuz. Es juckt einem regelrecht in den Fingern.

Mutproben gibt es auch. Theaterunterricht, Aufwärmung. Alle laufen im Kreis und wenn man sich bereit fühlt, soll man was ins Mikrofon sagen. Wenn du „Sieg“ sagst, sag ich „Heil“. Und wie fühlt sich das eigentlich an, einen Hitlergruß zu machen? Das ist aufregend.

Warum ist das so aufregend? Warum ist das für Jugendliche meiner Generation ein Tabu geworden, das auf derselben Stufe wie Sex steht, sich mit Alkohol fröhlich die Hand schüttelt, „ex oder Jude“?

Auf meinem Weg durch deutsche Schulen bin ich Menschen begegnet, in denen es immer wieder aufbrodelte, Zeugnisse einer schamhaften, tabuisierten Vergangenheit, die man trägt, aufgetragen bekommen hat, ohne jegliches Werkzeug, das beim Umgang mit dem Tabu hilfreich sein könnte. Und wenn es hochkocht und ich danebenstehe und gerade fünfzehn Jahre alt bin, dann muss ich auf einmal wählen. Der jüdische Hintergrund ist bekannt und wenn ich nichts sage, dann bin ich ein Waschlappen, aber wenn ich jetzt ausraste, dann bin ich eine hypersensible Zicke. Ein Waschlappen kann ich nicht sein, aber eine Zicke will keiner – was tun? Und warum, verdammte Scheiße, muss ich das jetzt entscheiden?

Zehnte Klasse Geschichtsunterricht. Kein Thema haben wir so lange behandelt wie die Weimarer Republik. Ewig, für immer und ewig. Und dann – Zack, Boom – es ist so weit: Das Jahr ‘33 steht vor der Lehrplantür. Nicht schon wieder dieses leidige Thema, das haben wir doch alle inzwischen verstanden, dass das scheiße war. Auf einmal bin ich die lebendig gewordene OH-Projektor-Folie.

Es brodelt, das kann man nicht leugnen und bei jedem natürlich ganz unterschiedlich, das kann man auch nicht leugnen. Manche haben es geschafft, den Herd auszumachen, ab und zu in den Topf zu gucken und festzustellen, dass dort das Wasser ist, mit dem Opa mal gekocht hat. Andere rühren ständig darin herum, und viele kriegen den Herd nicht unter Kontrolle und tragen ihren Kindern auf, bloß nicht in den Topf zu schauen, tun so, als gäbe es keinen. Und was macht das Kind?

Es dreht den Herd volle Pulle hoch, mal gucken, was mit dem mysteriösen Topf so passiert.

Ich bin jetzt schon fast erwachsen und auch du hast irgendwann zwischen diesem Witz und heute herausgefunden, dass man kein Nazi sein soll. Deine Mutter habe ich aber letztens im Supermarkt getroffen und die hat mich besorgt gefragt, ob das eigentlich spürbar ist, wenn man an der Sonnenallee wohnt, mit den Muslimen und dem Antisemitismus und so.

Bekommt man da was mit?

Auf einer WG-Party stelle ich mich vor, sage meinen Namen, sage meinen Namen, sage meinen Namen, buchstabiere ihn, biete eine Alternative zu meinem Namen an, erkläre woher der Name kommt. Zwei Balkone weiter echot das „Ich bin in Israel geboren“ in das Ohr eines Antideutschen mit elegant gebauter Tüte in der Hand. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen.

Tair Borchardt emigrierte mit ihrer Familie als Dreijährige von Israel nach Berlin, wo sie den Rest ihrer Kindheit und Jugend verbrachte. Heute studiert sie in Bonn.

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