„Gezeichnet“ – fremd unter Menschen

By Moody Man, Flickr, licensed under CC BY-NC 2.0.

Der japanische Schriftsteller Dazai Osamu gehört trotz seiner kurzen Schaffenszeit zu den meistgelesenen Autoren Japans. Vom Kaiserreich bis in die heutige Moderne finden seine introspektiven, stets am Menschen und seinem Werden orientierten Texte eine breite Leserschaft, die auch 74 Jahre nach seinem Tod mit ihm auf eine innere Reise gehen möchte. Sein in Deutschland wohl bekanntestes Werk, „Gezeichnet“ (jap. Ningen Shikkaku), greift die Biographie seines Autors auf und zeigt anhand ihrer die Irrwege, auf die einen die Suche nach der Conditio humana leiten kann.

Manchmal stellt man sich die Frage, ob dies wirklich die eigenen Eltern sind. Ob man nicht vielleicht doch adoptiert wurde und nur durch einen (un-)glücklichen Zufall in der jetzigen Familie gelandet ist. Anlässe zum Zweifeln mag es genug geben: seien es diametral entgegengesetzte Interessen, ein abweichendes Äußeres oder eine Art und Weise, die Welt zu betrachten, die sich erheblich von derjenigen der eigenen „Engsten“ unterscheidet. Aber selbst wenn: Die Menschen, die das eigene Elternhaus bewohnen, waren das ganze Leben lang für einen da, haben sich gesorgt und große Teile ihrer Energie für denjenigen Menschen aufgewendet, der ihr Haus am Ende verließ. Dass sie jemand anderes sein könnten, fällt nach all den Jahren nicht mehr ins Gewicht, denn Erzeuger zu sein, ist keine Voraussetzung für das Großziehen eines Kindes. Und noch viel weniger dafür, ob es sich rückblickend um eine „glückliche“ oder „unglückliche“ Zeit gehandelt hat. Man hat zusammen gelacht, geweint, gelitten, gestritten und gehofft, dass all das, was sich seine Liebsten vorgenommen haben, in Erfüllung gehen möge. Kurzum: sich bedingungslos geliebt.

Obwohl, eine Bedingung gibt es schon noch. Sie ist die initiale Ursache für all das Beschriebene. An ihr zu zweifeln, lässt alles Folgende sinnentleert und abstrus wirken und beraubt das Auskommen mit anderen Menschen jeglicher Chancen. Mensch zu sein. Den allermeisten erscheint es bestimmt absurd, auch nur die Möglichkeit eines Zweifels an dem eigenen Menschsein zu akzeptieren. Schließlich wissen wir grob, wie ein Mensch aussieht. Wir wissen, was seine Grundbedürfnisse sind. Und spätestens dann, wenn man von einem Menschen geboren wurde, erscheint Zweifel hieran unangebracht. Vor diesem Hintergrund ist kaum vorstellbar, wie jemand reagieren würde, wenn ein Fremder ihm gegenüber dennoch genau diese Zweifel wiederholen würde; ihm gesteht, zwar grundsätzlich wohl ein Mensch zu sein, aber irgendwie eine innere Distanz zu allen anderen zu empfinden und sich deshalb außerhalb der eigenen Spezies stehend vorzukommen.

Dazai Osamu führt uns mit seinem Werk „Gezeichnet“ in genau eine solche Gedankenwelt ein. Welche inneren Konflikte wirft es auf, wenn das eigene Bewusstsein derartig stark von demjenigen der anderen Mitmenschen abweicht, dass man am eigenen Sein zweifelt? Finden die anderen Schüler das auch lustig oder ist mein Lustig gar nicht ihr Lustig? Und wie lacht man in einem Umfeld, in dem zwar alle lachen, aber jeder glücklich sein muss?

Anhand einer autobiographischen Erzählung und unter Zuhilfenahme fiktiver Anteile, richtet Dazai den erzählerischen Fokus auf Zeitabschnitte, die exemplarisch für den Verlauf seines Lebens sind. Kindheit, Studienzeit und Werktätigkeit bilden hierbei den Dreischritt, in dessen Rhythmus ein stotterndes Dasein verläuft. Zwischen diesen Blöcken herrschen Depression, Ekstase und die Frage, ob man erst anders sein muss, um sich von allen zu entfremden, oder ob die Entfremdung einen dahingehend verändert? So werden diese ersten drei Jahrzehnte einer Jugend im japanischen Kaiserreich durch ständige Anpassung und das Ringen mit der eigenen Umwelt bestimmt, bis auch diese Strategie scheitert. Denn Dazai(s Charakter) reagiert auf seine Zweifel mit der Vermeidung von Konflikten, dem Verstecken der eigenen Gedanken und der Verleugnung seiner selbst. Der Antrieb dieser Überlebensstrategie ist eine unbändige Furcht vor Menschen und der kleine Funke Hoffnung, irgendwo möge eine artverwandte Seele warten.

Unzählige flüchtige Beziehungen, Alkohol- und Drogenexzesse sowie der Wunsch, alles irgendwie anders zu machen, sind Symptome einer Existenz in Bedrängnis, deren Suizidversuche selbst dann etwas bewirken, wenn sie sie nicht das Leben kosten. Hierbei spielt Dazai geschickt mit den unterschiedlichen Formen des Ichs und zeigt, warum es manchmal dienlich sein kann, zweimal dieselbe Person von sich selbst erzählen zu lassen, um letztlich dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive auszusagen.

Sein Dazai heißt Oba Yozo und versucht herauszufinden, ob er nie ein Mensch war oder erst im Laufe der Zeit aufgehört hat, einer zu sein. Diese Suche nach der Conditio inhumana lässt einen auch nach der Lektüre nicht los und bestätigt die Einzigartigkeit guter Literatur sowie den universalen Charakter gewisser innerer Fragestellungen. Bemerkenswert ist darüber hinaus die ständige Verknüpfung psychischer Konflikte mit den sie flankierenden materiellen Umständen. Denn Oba Yozo kommt aus einer wohlhabenden Familie und bringt beste Voraussetzungen für die Welt mit, in die er geboren wird. Nicht erst durch seine Zeit bei der kommunistischen Partei Japans wird ihm bewusst, wie essentiell Geld werden kann, sobald es einem nicht mehr zur Verfügung steht. Weshalb auch derjenige, der von Kindheitstagen an keinen Mangel zu erleiden hatte, durch zu viel Geld im falschen Moment zugrunde gerichtet werden kann.

Vielleicht passiert dies so oder so, wenn man als Fremder unter Menschen lebt.

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