Was passiert, wenn eine finnische Regisseurin versucht ihre einstigen Genossen aus einer FDJ-Jugendhochschule wiederzufinden. Über einen Dokumentarfilm, der einen wichtigen Beitrag zu vergangenen und neuen Debatten über Sozialismus leistet.
1988 ging die damals zwanzigjährige Kirsi Marie Liimatainen in die DDR auf die FDJ-Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“, um dort „Marxismus-Leninismus zu lernen und die Welt zu verändern“. In der Hochschule am Bogensee bei Berlin studierten Jugendliche aus achtzig Ländern. Über zwanzig Jahre später nimmt die Finnin eine Filmcrew mit, als sie sich auf den Weg macht ihre alten Genossinnen und Genossen wiederzufinden.
Liimatainen sucht nicht nur alte Freundinnen und Freunde, sondern den marxistischen Kampfgeist, den sie für verschwunden hält. Sie erklärt: „Ich will wissen, was vom großen sozialistischen Traum übrig blieb“. Ihre Reise führt sie auf drei Kontinente, zu Sozialistinnen und Sozialisten in Bolivien, Chile, dem Libanon und Südafrika.
Wo sind die GenossInnen geblieben?
Ihre alten Kollegen haben sich politisch sehr unterschiedlich entwickelt, aber alle kämpfen auf ihre eigene Weise immer noch für Gerechtigkeit. Marcelino, der sich selbst den „letzten Kommunisten in Chile“ nennt, bleibt seiner Partei treu. Währendessen versucht Lucia in Bolivien ihren Glauben an Gott und ihre kommunistischen Überzeugungen miteinander zu versöhnen – genau wie ihre Hoffnungen auf Evo Morales mit ihrem Misstrauen, nachdem er gemeinsam mit US-Konzernen eine große Autobahn durch den Regenwald bauen ließ.
Der südafrikanische Widerstandskämpfer Duma ist mittlerweile verstorben, aber seine Witwe kämpft weiter. Im Libanon hat sich Nabil von linker Politik formell verabschiedet und ist jetzt Mitglied der Zukunftspartei, die versucht Befreiungspolitik mit Neoliberalismus zu verbinden. Aber Nabils Familie und sein Freund Ghazwan, der auch an der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ studierte, halten ihre kritische Beziehung mit der Kommunistischen Partei aufrecht.
Kritik an der DDR
Obwohl die Genossinnen und Genossen sich in der DDR kennengelernt haben, ist ihre Haltung zum „real existierenden Sozialismus“ meistens sehr kritisch. Lucia stellt eine „Diktatur des Proletariats“ in Frage, die vierzig Jahre anhalten konnte, während Ghazwan die Stasi und Nabil die langen Warteschlangen kritisiert. Auch der immer noch dem Kommunismus treue Marcelino sagt: „für mich persönlich zerbrach die marxistisch-leninistische Idee unweigerlich mit dem Totalitarismus.“
Eine Ausnahme ist Khulu, ein ehemaliger Mitstreiter von Duma in dem bewaffneten Kampf gegen die Apartheid. Laut Khulu „unterstützte die DDR den ANC und die kommunistische Partei in vollem Umfang. Westdeutschland hingegen arbeitete Hand und Hand mit dem damaligen Apartheidsystem.“ Nichtsdestotrotz scheint es so, dass die anderen ihre Hoffnung auf den Sozialismus nur behalten konnten, weil sie darunter etwas anderes verstehen, als sie es in der DDR vorfanden.
Parteien und ihre Defizite
Ebenso versuchen alle auf irgendeine Weise mit den Enttäuschungen über ihre lokalen Parteien zu Recht zu kommen. Lucia versteht sich als „eine Kommunistin, aber keine Kommunistin in einer politischen Partei“, weil sie überzeugt ist, dass Parteien nur an Macht interessiert seien. Ghazwans Vater beklagt, dass „die linke Bewegung sich selbst verkauft hat“, während einer seiner Freund bedauert: „Es ist alles vorbei. Einige wurden Minister, einige wurden Stellvertreter. Einige füllten ihre Taschen, einige sind hier geblieben. Andere sind im Grab.“
Die vielleicht schärfste Kritik kommt von Dumas Witwe, die um ihren gestorbenen Mann trauert: „Er war enttäuscht von den Menschen, die jetzt alle beim ANC sind. Sie machen es falsch. Sie tun das Falsche. Das ist nicht der Kampf für den die Mandelas, die Sisulus die Mateos gekämpft haben.“ Liimatainen stimmt zu: „Von der früheren politischen Agenda des ANC, der Freedom Charter, deren Grundsätze dem Manifest von Marx entsprachen, ist man heute weit entfernt.“
Sehnsucht nach etwas Besserem
Der Film verzichtet darauf Antworten auf die vielen offenen Fragen seiner Protagonistinnen und Protagonisten zu geben. Das muss er auch nicht – das ist unser aller Aufgabe. Wenn wir für eine bessere Gesellschaft kämpfen wollen, müssen wir die Antworten finden. Wie war es in der DDR? Brauchen wir Parteien und wenn ja, welche? Können wir uns auf charismatische Figuren wie Morales, der im Film interviewt wird, verlassen?
Statt einfache Antworten anzubieten, liefert der Film Sehnsucht nach etwas Besserem. Am Anfang des Films erklärt Liimatainen warum sie sich als Kind für Sozialismus begeistert hat: „Der Glaube an eine bessere Welt. Der Glaube an die Kraft der Gruppe. Der Glaube, dass etwas passieren wird. Bald. Für uns alle.“ Dieser Glaube stirbt nie.
„Comrade, Where Are You Today?“ stellt eine neoliberale Gesellschaft dar, die sich laut Lucia nach dem Gesetz des Stärkeren richtet. Das kann sowohl Grund für Hoffnung als auch für Verzweiflung sein. Für Lucia bedeutet das Folgendes: „Wenn wir uns unserer Kraft bewusst sind, können wir die ganze Welt zu einem besseren Ort machen.“ Für Ghazwan bedeute es: „Eines Tages müssen wir eine zeitgemäße Version des Sozialismus aufbauen. Nicht die des harten stalinistischen Sozialismus sondern die des demokratischen Sozialismus, in dem die Menschen nicht unter Zwang stehen.“
Veränderung auch in Deutschland?
Lediglich einen Aspekt von „Comrade, Where Are You Today?“ finde ich kritikwürdig: Der Film vermittelt teilweise den Eindruck, dass Sozialismus etwas Exotisches sei – etwas, dass in Lateinamerika, Arabischen Ländern und Südafrika erkämpft werden kann, aber nicht hier im Westen. Ich hätte mir gewünscht, dass Liimatainen auch eine europäische Genossin oder einen Genossen interviewt hätte – jemand, der bei 15M, Nuit Debout oder in der Jeremy Corbyn-Bewegung aktiv ist. Die früheren Ideen von Kommunismus sind vielleicht veraltet. Es gibt aber neue Ziele, denen wir folgen können – auch in Deutschland.
Das soll den Film jedoch nicht abwerten, der einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über Sozialismus leistet. Er zeigt sowohl etwas über unseren Umgang mit früheren Gesellschaften, die sich „sozialistisch“ nannten, als auch etwas darüber, wie wir echten Sozialismus erkämpfen können.
Der Film: Comrade, Where Are You Today?, Regie: Kirsi Marie Liimatainen, Deutschland/Finnland 2016, W-Film, 110 Minuten
Der Artikel von Phil Butland erschien zunächst auf marx21.de