Intensive Einblicke in das Innenleben revolutionärer Organisationen im Spätkapitalismus sind schwer zu finden. Einen solchen Einblick bietet dieses Buch am Beispiel der Revolutionär-Marxistischen Liga, später Sozialistische Arbeiterpartei, von 1969-88 Schweizer Sektion der trotzkistischen 4. Internationale.
In ihrer Hochzeit organisierte sie bis zu 600 Mitglieder und 1.500 Sympathisantinnen und Sympathisanten und war damit weit stärker (im Verhältnis zur Einwohnerzahl) als vergleichbare Organisationen in Deutschland. Das Buch basiert auf Antworten auf einen von der Autorin erstellten Fragebogen durch 110 ehemalige Mitglieder. Von ihnen stammt die Mehrzahl selbst nicht aus akademischen Familien, hat aber selbst einen Hochschulabschluss gemacht. Viele haben später in der Bildungsarbeit und in den Gewerkschaften ihren Lebensunterhalt verdient, 17 waren ehemalige Hauptamtliche der RML/SAP. Ein Drittel der Antworten stammt von Frauen. Behandelt werden Fragen rund um die eigene Politisierung und den Alltag in der Organisation. Wie wurden die Publikationen wahrgenommen? Wie liefen Schulungen? Wie stark war die zeitliche und psychologische Belastung durch politische Hyperaktivität? Rechnete man damals wirklich mit einer Revolution? Wie veränderte der Feminismus die Partei? Wie lief die Arbeit in Bewegungen, Gewerkschaften und Betrieben? Wie kam es zum Zerfall und der chaotischen Selbstauflösung der Organisation? Welchen Weg gingen die Militanten später? Viele sind politisch aktiv geblieben, vor allem in links-grünen Formationen sowie trotzkistischen Nachfolgeorganisationen wie SolidariteS, oder spielten später in den Gewerkschaften und dort namentlich bei der Gründung der kämpferischen Gewerkschaft UNIA eine wichtige Rolle. In dem Buch sprechen vor allem die Zeitzeugen selbst, ihre unmittelbaren Zeugnisse stehen im Zentrum. In jedem Kapitel werden durch ihre Zitate Schlaglichter auf das Innenleben und die Praxis der Organisation geworfen. Gewünscht hätte ich mir eine stärkere Rahmung dieser Zeugnisse durch eine Gesamt-Geschichte der Organisation.
Aus der Perspektive von jemanden wie mir, der in den 90ern unter weit schlechteren Voraussetzungen, als sie die 70er boten, den Aufbau einer vergleichbaren revolutionären Organisation in Angriff nahm, ist es auch ein traurig stimmendes Buch: So viel Hoffnung, so viel Energie, soviel Lebenszeit – und dann erweisen sich die revolutionären Hoffnungen als Illusionen, und die Organisation zerbricht. Die Rückblicke im Buch sind allerdings meist gar keine verbitterten, die meisten Mitglieder beurteilen ihre Aktivitäten rückblickend als grundsätzlich wichtig und richtig und betonen meist auch, wie viel sie in dieser politischen Arbeit für ihr Leben insgesamt gelernt haben.
Die Frage nach einer Überwindung des Kapitalismus stellt sich heutzutage eher noch drängender als damals. Und das Buch kann Hinweise darauf geben, wie eine antikapitalistische Organisierung aussehen sollte, und wie besser nicht. Es sei daher allen an solchen Organisierungsversuchen Beteiligten – durchaus auch über das enge Spektrum des Trotzkismus hinaus – zur Lektüre empfohlen.
Das Buch kann hier bestellt werden.
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