Syrizas Sieg ist die lang erwartete Notbremse – Im Gespräch mit Mario Candeias

Mario Candeias

Der Wahlsieg von SYRIZA hat europaweit Diskussionen über einen Linksruck und gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen. Wir haben mit Mario Candeias, Politikwissenschaftler und seit 2013 Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, über den Wahlerfolg und einen möglichen Wandel in der Krisenpolitik gesprochen.

Die Freiheitsliebe: In Griechenland wurde am vergangenen Sonntag gewählt, wie siehst du das Ergebnis? Könnte es durch den rechten Koalitionspartner zur Abschwächung des eigenen Programms kommen?

Mario Candeias: Der Wahlsieg gleicht der lang erwarteten Notbremse des dahin rasenden Zuges autoritärer Kürzungsmaßnahmen. Jetzt geht es darum, ein soziales und ökonomisches Notprogramm umzusetzen. Dafür braucht es jetzt eine Regierung. Das ist die Grundlage für die seltsame Koalition mit der rechten Partei ANEL. Nicht das Syriza eine Wahl gehabt hätte: Das knappe Verfehlen der absoluten Mehrheit macht eine Koalition unumgehbar – doch es war seit langem klar die die kommunistische Partei Griechenlands dies ablehnt. Mit den Parteien der Troika, also auch den Resten der ehemals sozialistischen PASOK, ist eine Koalition undenkbar – sie hielten bis zuletzt an der Austeritätspolitik fest. To Potami (Der Fluss) ist eine Art post-politische Formation ohne politisches Programm, eher ein Eliten-Projekt, eng mit den korrupten Oligarchen verknüpft. Sie bezeichnen sich als pro-europäisch, ohne Kritik an der gegebenen Form einer autoritären EU-Verfasstheit. Ihr Kurs der „Versöhnung“ verschleiert eher die harten gesellschaftlichen Konflikte im Innern Griechenlands und eben auch mit der Troika.

Es bleib nur die rechte ANEL. Mit ihr gibt es eine – vorübergehende – Konvergenz der Interessen: für die Wiedergewinnung der demokratischen Souveränität der griechischen Bevölkerung (Syriza) bzw. der griechischen „Nation“ (ANEL) und gegen die Fremdbestimmung durch die Troika. Alle anderen Fragen und erheblichen politischen Differenzen werden in den Hintergrund gerückt. Obwohl es auch da Einigungsmöglichkeiten gibt, etwa beim wichtigen Thema der Flüchtlingspolitik. Die Zustände in den Lagern des europäischen Grenzregimes in Griechenland sind untragbar. Beide Parteien sind daher für eine Art der Legalisierung der Flüchtlinge. Sie sollen Papiere erhalten, um Zugang zu den notwendigen sozialen Leistungen zu erhalten und ein Recht auf Mobilität zu erhalten, auch innerhalb der Schengen-Staaten, so die Syriza-Sicht – für ANEL bedeutet dies schlicht, weniger Flüchtlinge im eigenen Land (ähnlich wie es Berlusconi in Italien informell bereits betrieben hatte). insofern gibt es eine Chance mit den rechten zu regieren, ohne von progressiven, linken Positionen abzurücken. Die Machtverhältnisse im Staat lassen zur Zeit kaum mehr zu.

Die Freiheitsliebe: Während die Bundesregierung die Angst vor SYRIZA forciert, erklärt die Linke, dass SYRIZAs Sieg auch eine Folge der Politik von Merkel sei, würdest du diese Einschätzung teilen?

Mario Candeias: Ja, natürlich. Dazu unternehmen wir seit Jahren viel Aufklärungsarbeit. «Euro – so nicht!», hieß ein Wahlkampf-Slogan der PDS einst. Die linke Kritik an der Struktur der Währungsunion Ende der 1990er Jahre, wie sie schließlich im Vertrag von Maastricht und dem Stabilitätspakt festgeschrieben wurde, war zutreffend. Die den Vorgaben der damaligen deutschen Regierung folgende monetaristische Form berücksichtigte nur Schuldenstand, Neuverschuldung und Inflation, nicht jedoch Leistungsbilanzen, Produktivitätsentwicklung, Sozialleistungs- und Lohnniveaus. Im Ergebnis konnten die unterschiedlichen Produktivitäten zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und Regionen im europäischen Währungsraum nicht mehr durch Wechselkursanpassungen ausgeglichen werden – zugleich fehlte es an einer Angleichung sozialer Mindeststandards, der Angleichung von Leistungsbilanzen und einer Art Länderfinanzausgleich (über die Regional- und Konversionsfonds hinaus). Als möglicher Ausgleichsmechanismus bleiben nur Lohn- und Tarifpolitik sowie die weitere Absenkung der geltenden sozialstaatlichen Standards in den Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten.
Die Folgen der Agenda 2010 und die niedrigen Tarifabschlüsse führten in den Jahren 2000 bis 2008 zur einer Stagnation der Reallohnentwicklung in der Bundesrepublik, während in allen anderen Ländern die Löhne moderat stiegen, bspw. in Polen und Griechenland +40%, Großbritannien +26%, Frankreich +10%, Spanien +4,5%. Dies hat die Konkurrenzbedingungen in den europäischen Peripherien nicht gerade verbessert. Die deutsche Ökonomie hat die anderen nieder konkurriert – und bei uns den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen sowie die schleichende Prekarisierung von Arbeit und Leben vorangetrieben.

Die krisenhafte Zuspitzung der wachsenden Ungleichgewichte in der Eurozone konnten über eine Kreditschwemme verzögert werden. Das war solange kein Problem, als bei einem niedrigen Zinsniveau und reichlich Liquidität auf den Märkten Kredite günstig zu haben waren und Staatsanleihen stets ihre Abnehmer fanden (nicht zuletzt bei deutschen Großbanken). Der immense Kapitalexport von Seiten der Überschussländer garantierte einen stetigen Fluss der Refinanzierung. Die langjährige kreditfinanzierte Nachfrage von Konsumenten, Unternehmen und Regierungen der Defizitländer stützte in allererster Linie auch den deutschen Exportboom und damit ein bescheidenes Wachstum in Deutschland.
…bis die globale Finanz- und Wirtschaftskrise dem ein Ende setzte. Erst mit der Krise und dann besonders mit den durch die Troika erzwungen Kürzungsprogrammen stieg die Staatsverschuldung sprunghaft an. Die Troika setzte gleichzeitig auch die sog. «innere Abwertung» durch, um vermeintlich die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer wieder herzustellen. Tatsächlich treibt die rigide Kürzungspolitik Europa in eine Rezession und stürzt die Krisenländer in eine Depression. Ergebnis ist eine Spirale des Elends von Griechenland bis Portugal.

Die Freiheitsliebe: Kann der Wahlsieg von SYRIZA wirklich die aktuelle Krisenpolitik verändern und der erste Schritt zum Ende der neoliberalen Hegemonie sein?

Mario Candeias: Syriza symbolisiert einen Verdichtungspunkt, der die zivilgesellschaftliche Selbstorganisierung und den Protest in die Perspektive der Machtergreifung übersetzt. Doch dürften die Handlungsspielräume innerhalb der gegebenen Institutionen mehr als gering sein: Weder der Griff der Troika noch der internationalen Finanzmärkte dürfte nachlassen – im Gegenteil. Die neue Regierung ist außerdem eingezwängt zwischen dem autoritären europäischen Konstitutionalismus und einem von PASOK und ND klientilistisch besetzten bürokratischen Apparat. Auch muss sie durch Maßnahmen von kapitalistischer Seite mit einer sich noch vertiefenden ökonomischen Krise rechnen. Zurückweisung und Neuverhandlung der Memoranden, Kapitalverkehrskontrollen oder die begonnene Entwicklung eines umfassenden Regierungsprogramms werden nicht ausreichen. Ohne grundlegende Infragestellung und Schaffung neuer Institutionen bliebe auch eine Syriza-geführte Regierung chancenlos.

Sie muss die Zumutung des Regierens auf der überkommenen Basis zurückweisen. Doch wie geht das? Ein soziales und ökonomisches Notprogramm muss begleitet werden von einem Bruch, der große Teile der Bevölkerung in einen Prozess der kollektiven Reorganisation und Neugründung der Demokratie einbindet. Dies schließt eine Umgehung und Reform der klientilistisch besetzten Apparate ein. Dafür sind durch die solidarischen Hilfsnetze und Organisationsprozesse zivilgesellschaftliche Knotenpunkte geschaffen. Sie waren die Grundlage für den bisherigen Erfolg. Ob sie für die Stützung einer Linksregierung in einer krisenhaften Übergangszeit ausreichen können, ist offen. Zudem bedarf es einer starken internationalen Solidarisierung und ähnlicher Prozesse in anderen Ländern.

Doch wird durch dieses Ereignis eine Transformation in Europa überhaupt erst wieder denkbar. Erst dadurch wird ein effektiver Bruch erzeugt: zunächst durch die Zurückweisung der Kürzungspolitiken der Troika, die Erzwingung eines Schuldenschnitts, Durchführung des Notprogramms etc. Das Opting-Out gibt es in der EU bereits in zahlreichen Fragen, insbesondere Großbritannien macht davon extensiven Gebrauch. Das politische Risiko, gegen EU-Richtlinien zu verstoßen, ist einzugehen; andere werden folgen, dann ist auf eine Ausdehnung solcher Reformen hinzuwirken. Dieses Ereignis in einem kleinen Land der EU, kann die europäischen Verhältnisse zum tanzen bringen, wie es alle unseren transnationalen Organisierungsversuche und Krisenproteste nicht vermocht haben, das war uns seit langem klar. In meinem ganzen politischen Leben wurde noch nie derartig ausführlich über eine Wahl berichtet, in allen Medien.

Die Freiheitsliebe: Welche Auswirkungen hat Wahlsieg auf linke Kräfte in Spanien und Portugal wo ebenfalls dieses Jahr gewählt wird?

Mario Candeias: Die Herrschenden tun alles, um die neue Regierung zu isolieren – und zugleich sind immer wieder Kompromissangebote zu vernehmen. Sie bereiten sich auf alle Eventualitäten vor. Auch in anderen Ländern drohen Regierungen des europäischen Austeritäts-Regimes abgewählt zu werden: in Portugal, Griechenland und vor allem Spanien. Ein mögliches linkes Südbündnis gewinnt realistische Konturen. Solche Bündnisse würden sich nicht nur auf die linken Kräfte der Bewegungen und Parteien beziehen, sondern böten auch einer in Bedrängnis geratenen Sozialdemokratie die Chance, sich zu erneuern. Dies könnte die Kräfteverhältnisse in Europa weitgehend verändern.

Die Freiheitsliebe: Welche Schritte sollte die deutsche Linke übernehmen um eine verstärkte Zusammenarbeit zu fördern?

Mario Candeias: Die gesellschaftliche Linke in Deutschland wie die Partei Die Linke arbeiten schon längst mit den linken Kräften in Europa zusammen. Jenseits der gemeinsamen Krisenproteste, ob gemeinsamen Aktionstagen der Empörten und Occupy, koordinierten europäischen Generalstreiks der Gewerkschaften oder der Blockupy-Prozess, gibt es einen regelmäßigen transnationalen Austausch über gemeinsame Strategien und Aktionen in unzähligen von kleinen und großen Treffen. In vielen Bereichen bestehen dauerhafte Arbeitskontakte, nicht zuletzt mit Syriza oder den Solidarstrukturen rund um Solidarty4all.
Die neue Regierung wird in Widersprüche geraten, die auszuhalten, zu analysieren und solidarisch zu kritisieren und gemeinsam zu beraten gilt.

Und es wird darum gehen, deutlich zu machen, dass es nicht um Solidarität für eine Linksregierung in fernen Griechenland geht, sondern um Solidarität im Eigeninteresse. Es geht um eine Beendigung der perspektivlosen Kürzungspolitik und der Prekarisierung in ganz Europa. Das erfordert mehr als Überzeugungsarbeit. Es geht um die Organisierung vergleichbarer Bewegungen und Organisationen in jedem einzelnen Land. Athen war nur er Anfang, Madrid könnte folgen, und dann… wer weiß? Die Hoffnung ist zurück.

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2 Antworten

  1. Passt nicht gerade zur Überschrift, aber ich möchte dieses Video hier trotzdem nochmal reinstellen, da mich es immer noch wundert, warum es so wenig verbreitet ist.

    Der ehemalige Spiegel Journalist Harald Schumann redet Klartext und prangert die Interne Pressefreiheit in Deutschland an.

    Schumann: “… das ist in der deutschen Presse Gang und Gäbe, dass Chefredakteure oder Resortleiter ihren Untergebenen sagen, wie sie zu denken haben. Dass Vorgaben gemacht werden, was sie recherchieren dürfen und was nicht, und dass viele junge Kollegen daran gehindert werden überhaupt kritische Journalisten zu werden weil ihre Vorgesetzten das gar nicht wollen.”

    Interviewer: “Sie nehmen ausdrücklich die ÖR-Anstallten nicht aus, warum?”

    Schumann: “Weil ich genügend Kollegen aus ÖR-Anstallten kenne, die mir genau solche Geschichten berichtet haben und mir das hundertfach bestätigt haben. Insofern, die sind da nicht aus zunehmen.”

    https://www.youtube.com/watch?v=d1ntkEbQraU

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